Die Eisläuferin
gestalten, wenn Sie mich verstehen.« Sie schaute auf die Uhr.
»Das, was wir hier haben, ist der Glücksfall schlechthin.« Er war immer noch nicht von ihr abgerückt, und sie hörte die Baikalwellen ans Ufer schwappen.
»Nun hören Sie aber mal auf mit Ihrer Begeisterung. Bleiben Sie doch bei den Tatsachen. Ich habe Ihnen auch schon viel zu viel gesagt. Und jetzt sage ich ganz klar: Wenn hier jemand coacht, dann nicht Sie mich, sondern ich das Volk.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Bereitschaft und Zielsetzung müssen vom Auftraggeber ausgehen.«
»Eben.«
»Noch einmal, hören Sie doch einfach mal zu, denn es lässt sich neurologisch erklären: Wenn man eine neue Aufgabe angeht und dabei bekannte Denkmuster verlassen muss, dann werden weit entfernte Nervenzellen im Gehirn |113| erstmalig miteinander verbunden.« Er griff nach ihren Händen, führte ihre Fingerspitzen zusammen und sagte: »So.«
Das war ihr Wort. Er benutzte einfach so ihr Wort. Sie zog ihre Hände zurück.
»Ihr Hirn ist eine Art biologischer Computer, der in der Lage ist, sich selbst zu verändern. Zellen können verschwinden oder nachwachsen, wandern, neue Funktionen übernehmen. Die haben jetzt freie Bahn, denn Ihr bewusstes Ego von 1990 bis heute ist gerade futsch.« Er klatschte in die Hände, hob sie dann mit weit ausholender Geste auseinander und guckte in die Luft. »Es ist alles in Ihnen drin! Sie wissen es bloß noch nicht!«
»Darf ich Ihnen eine Käseschnitte anbieten?«
Nein, er wollte keine, blieb stattdessen hartnäckig bei seinen Erklärungen. »Für eine solche Neuausrichtung und für all die Lernprozesse, die bei Ihnen auch noch jeden Tag stattfinden, braucht man jede Menge neuronale Energie. Und jetzt kommt’s: Die schüttet nicht nur Stresshormone, sondern auch Endorphine aus. Ob Sie wollen oder nicht, die macht etwas mit Ihnen! Und genau daran wollen wir arbeiten!«
Sie strich sich einen Krümel vom Revers. »Also, das mit den Endorphinen verhält sich bei mir etwas anders.«
»Tatsächlich?« Er stand auf, nahm sich nun doch eine Käseschnitte, kam zu ihr herüber und kniff sie fest und gemein in den Oberarm. Sie schrie auf, wollte die Security oder doch zumindest ihren Mann rufen.
Er setzte sich wieder. »Sind Sie jetzt wütend?«
»Pah.«
»Schauen Sie, Wut ist mindestens so viel wert wie die Endorphine, die Ihnen nicht gefallen. Ich hoffe, Sie bekommen einen schönen blauen Fleck, der Sie morgen an mich erinnert. Verstehen Sie mich denn nicht? Emotionale Momente |114| wie diese sind die einzige Chance, durch die Blockade zu kommen, die Ihnen Ihr Hippocampus gerade in den Weg knallt.«
Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf den Oberschenkeln: »Sie haben keine Ahnung von Politik, nicht wahr?«
»Nein, genau deswegen sitze ich ja hier. Es geht um Sie, nicht um die Politik.«
»Warum?«
»Weil es hier nicht um Inhalte geht.«
»Das ist mir jetzt aber zu einfach.«
Der kleine Picasso-Druck hing schief. Sie ging zum Bild, nahm es ab, schaute dahinter und entdeckte das kleine Abhörgerät. Sie hängte den Picasso wieder hin und sagte: »Wir können auch gern Russisch reden.«
Er tat es: »Ihre größte Herausforderung kommt von innen! Vertrauen Sie mir.«
»Das würde ich gern, mein Lieber. Wissen Sie, der Platz für ehrliche Ratgeber ist noch relativ unbesetzt. Aber Entscheidungen aus erinnerungsstimulierenden Emotionen heraus sind unverantwortlich, so darf ich meine Arbeit nicht erledigen. Und dann gibt es da noch eine Kleinigkeit: Ich werde Sie morgen wieder vergessen haben, genau wie all das, was Sie mir hier erzählen. Für mich sind Sie Teil der Fata Morgana. Hören Sie, ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt entwicklungsfähig bin, selbst wenn ich es wollte!«
Er blieb unbeeindruckt und vor allem stur, was ihr fast schon wieder sympathisch war. »Lassen Sie sich doch mal einfach so darauf ein. Sie können es sich bei Ihrer derzeitigen Erinnerungslage doch leisten!«
»Hören Sie, ich hab’s versucht. Ich habe wirklich versucht, das alles als Chance zu sehen. Aber gehen Sie mal in eine Kabinettssitzung, in nur eine einzige Kabinettssitzung des Jahres 2011! Da ist nix mehr mit Emotionen.«
|115| Sie ahnte es, noch bevor er es ausgesprochen hatte: »Aber dann werden Sie die doch morgen auch schon wieder vergessen haben. Machen wir uns nichts vor. Noch arbeitet Ihr Hirn in einer Art provisorischen Kurzeitbetriebs. Und das ist doch auch mal schön, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Ich regiere ein
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