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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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«Albträume?»
    «Äh… ja.» Grove seufzte. «Den einen oder anderen.» Er konnte sich nur bruchstückhaft an die vergangenen beiden Tage erinnern. Er wusste noch, dass er nur Minuten nach dem Kampf in der Höhle im Rettungshubschrauber aufgewacht war und den Gewitterwolken nachgeschaut hatte, die unter dem Bauch des Choppers wegdrifteten. Er erinnerte sich, immer wieder das Bewusstsein verloren zu haben, als man ihn im grellen Licht und Lärm durch das Traumazentrum schob. Er erinnerte sich sogar an die vertrauten Gesichter, die im Aufwachraum auf ihn hinuntersahen – Tom Geisel, Walt Hammerman vom Justizministerium und FBI-Direktor Louis Mueller. Sie hatten tröstende Worte gemurmelt, unbeholfen und steif, gehemmt von Politik und Protokoll. Grove hatte sich vergeblich bemüht, entgegen der Wirkung der Schmerzmittel und dem anhaltenden Schock wach zu bleiben, und hatte meistens geschlafen. Zwei Tage lang. Hatte geschlafen und von paläolithischen Kämpfen geträumt, von Gottesbotschaften und erdentrückten Schlachten aufweiten Berghängen. Seine eigene Geburt hatte er im Traum noch einmal erlebt. Normalerweise hätte Grove solche Halluzination dem Blutverlust, einem hämorrhagischen Schock oder Sauerstoffmangel zugeschrieben. Aber nach diesen beiden Tagen glaubte er allmählich daran, dass seine Visionen eine tiefere Bedeutung hatten. Er glaubte, dass die Visionen nicht nur von seinem unterversorgten Gehirn hervorgerufen wurden, sondern außerhalb seiner selbst entstanden. Organisch, selbstbestimmt, telekinetisch – gleichgültig, aus welcher Quelle sie stammen mochten. Sie waren Botschaften, die in Groves Psyche dringen sollten. Er hatte noch nie an das Paranormale geglaubt, und in gewisser Hinsicht tat er es auch jetzt nicht. Aber wenn Skepsis auf Unwiderlegbares trifft, flüchtet sie sich in Wahnvorstellungen. Darum fühlte er sich auch so verdammt verängstigt, als er an diesem Morgen reichlich angeschlagen unter die Lebenden zurückkehrte.
    «Da ist ja unser Starpatient.»
    Die Stimme erklang von der Tür her und schreckte ihn aus seinem Grübeln auf. Der Arzt in der weißen Jacke war verblüffend jung – höchstens Anfang dreißig – und hatte seinen dichten Haarschopf stark gegelt. Mit seinem strahlenden Lächeln und dem metallenen Klemmbrett unterm Arm wirkte er wie ein Versicherungsvertreter, der Grove die Vorteile einer Terminversicherung gegenüber einer Kapitallebensversicherung klarmachen wollte.
    «Wie geht’s uns denn, Doc?» Grove hatte vage Erinnerungen daran, dass das tatkräftige junge Gesicht über ihm geschwebt war, zum Teil vom sterilen Mundschutz verdeckt.
    «Diese Frage sollte ich Ihnen stellen. Atmen Sie tief ein, bitte, und halten Sie die Luft an.»
    Das Stethoskop des Arztes lag kalt auf Groves Brust, während er gehorsam ein- und ausatmete. Noch hatte Grove wenig Gefühl in seiner rechten Seite. Seine Leistengegend juckte, wo man sie in aller Eile rasiert hatte. Sein Hals war wund, und seine Hände fühlten sich unter all der Verbandgaze und dem weißen Klebeband steif und kalt an. Um seine Taille trug er Pressverbände, die sich auf der rechten Seite aufwölbten. Der Rest seines Körpers war mit einer Vielzahl von Butterfly-Klebeverbänden bedeckt.
    Grove sah zu dem Jungdoktor auf. «Wie ist die Prognose, Doc? Komme ich mit dem Leben davon, oder was meinen Sie?»
    Der Arzt lächelte ihn an. «Jemand da oben muss Sie sehr mögen, mein Freund.»
     
     
    Die Sacramento-Northern-Pacific-Eisenbahnlinie verläuft auf dem Dach Amerikas wie eine verkalkte und längst vergessene Rohrleitung, und ihre zu Fossilien gewordenen Schienen verrotten in der Erde. Einmal alle Jubeljahre zockelt ein Güterzug, beladen mit Eisenerz, über die Strecke. Er macht nur selten Halt und durchquert die Außenposten der Zivilisation wie ein Geisterschiff bei Nacht. Sehr früh am Mittwochmorgen machte einer von diesen Zügen einen Nothalt außerhalb von Eureka.
    Die Lokomotive – eine altersschwache Ansammlung von lockeren Schrauben und schmierigen Trittbrettern – kam zischend und spuckend im Stockdunkeln zum Stehen und spuckte einen verschmutzten Mann in dreckigen Latzhosen aus. Der Name des Lokomotivführers war Jurgens, und er sprang mit der selbstverständlichen Lässigkeit eines Veteranen der Schiene vom Trittbrett der Lokomotive auf die Schlacke.
    Jurgens marschierte an den Güterwagen entlang und tippte mit seiner Hickoryrute wie ein Löwenbändiger auf die Kupplungen. Das Problem waren die fast

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