Die Eisprinzessin schläft
sein, tauchte das Bild von Alex’ Leiche vor ihr auf. Das Blut auf den Fliesen und die Haare, die wie ein gefrorener Heiligenschein um ihren Kopf lagen. Vielleicht war das der Grund, weshalb Erica angefangen hatte, dieses Buch zu schreiben. Es war eine Möglichkeit, die Jahre wiederzuerleben, in denen sie einander nahe gewesen waren, und zugleich diejenige kennenzulernen, zu der Alex nach ihrer Trennung geworden war.
Sorge bereitete ihr in den letzten Tagen, daß das Material ein bißchen platt wirkte. Ihr war, als würde sie eine dreidimensionale Figur von nur einer Seite betrachten. Die anderen Seiten, die genauso wichtig waren, um ein Bild des Ganzen zu erhalten, hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie schloß daraus, daß sie sich die Menschen um Alex näher ansehen mußte, also nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch all jene, die eine Nebenrolle innehatten. Ihre Gedanken waren in erster Linie auf jene Sache gerichtet, die sie mit der Empfindsamkeit des Kindes gespürt, über die sie jedoch niemals Klarheit erlangt hatte.
Irgend etwas war in dem Jahr geschehen, bevor Alex weggezogen war, und niemand hatte sich je darum gekümmert, ihr mitzuteilen, was es war. Das Getuschel verstummte, sobald sie in die Nähe kam, und man hatte sie vor etwas geschützt, was sie, das fühlte sie jetzt, unbedingt erfahren mußte. Das Problem war nur, daß sie keine Ahnung hatte, wo sie anfangen sollte. Das einzige, was ihr von den wenigen Malen in Erinnerung geblieben war, als sie versucht hatte, die flüsternd geführten Gespräche der Erwachsenen zu belauschen, war das Wort »Schule«, das wiederholt gefallen war. Das war nicht viel. Erica wußte, daß ihr Grundschullehrer noch immer in Fjällbacka wohnte, und sie konnte ebensogut dort anfangen.
Der Wind hatte zugenommen, und trotz der dicken Kleidung machte sich die Kälte bemerkbar. Erica fühlte, daß es Zeit war, sich zu bewegen.
Sie warf einen letzten Blick auf Fjällbacka, das in seiner geschützten Position da lag, am Fuße des Berges, der hinter dem Ort aufragte. Was im Sommer meist in goldgelbes Licht getaucht war, wirkte jetzt grau und karg, aber Erica gefiel es besser so. Im Sommer erinnerte all das mehr an einen Ameisenhaufen, in dem ständige Bewegung herrschte. Jetzt lag Friede über dem kleinen Ort, und sie konnte sich geradezu vorstellen, daß er schlief. Zugleich wußte sie, daß dieser Friede trügerisch war. Unter der Oberfläche gab es genausoviel Schlechtigkeit wie überall dort, wo sich Menschen befanden. Davon hatte sie in Stockholm so einiges gesehen, aber Erica glaubte, daß es hier sogar noch gefährlicher werden konnte. Haß, Neid, Gier und Rache, alles verschwand unter einem großen Deckel mit der Aufschrift »Was werden die Leute sagen?«. All das Böse, Kleinliche und Gefährliche durfte in aller Ruhe unter einer Oberfläche gären, die immer gut geputzt sein mußte. Jetzt, als Erica auf den abgewaschenen Felsen von Badholmen stand und den schneebedeckten kleinen Ort betrachtete, fragte sie sich, welche Geheimnisse er wohl hütete.
Es überlief sie kalt, sie steckte die Hände tief in die Taschen und kehrte ins Dorf zurück.
Mit jedem Jahr, das verging, war das Leben bedrohlicher geworden. Er entdeckte ständig neue Gefahren. Es hatte damit angefangen, daß er sich plötzlich all der Bazillen und Bakterien bewußt geworden war, die zu Billionen und Trillionen um ihn herumwirbelten. Etwas anfassen zu müssen wurde zur Herausforderung, und wenn er es nicht umgehen konnte, sah er ganze Armeen von Bakterien über sich herfallen, die Myriaden von bekannten und unbekannten Krankheiten mitzubringen drohten, die ihm einen langsamen, quälenden Tod bringen würden. Schließlich war alles in seiner Umgebung bedrohlich geworden. Große Flächen enthielten große Gefahren und kleine Flächen kleine. Wenn er in eine Menschenmenge geriet, drang ihm der Schweiß aus allen Poren, und sein Atem wurde schnell und flach. Die Lösung war einfach. Das einzige Umfeld, das er zumindest teilweise kontrollieren konnte, war sein eigenes Zuhause, und er erkannte rasch, daß er sein Leben tatsächlich leben konnte, ohne je wieder vor die Tür zu gehen.
Das letzte Mal war er vor acht Jahren draußen gewesen, und jede eventuelle Sehnsucht danach, die Welt da draußen zu erleben, verdrängte er so effektiv, daß er nicht mehr wußte, ob sie überhaupt noch existierte. Er war zufrieden mit seinem Leben und sah keinen Grund, etwas zu ändern.
Axel Wennerström
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