Die Eisprinzessin schläft
Schwester?«
»Ja, wie soll ich das beschreiben.« Er dachte wieder lange nach, bevor er eine Antwort gab. »Angespannt. Als würden sie allesamt auf Zehenspitzen umeinander herumschleichen. Die einzige, die jemals gesagt hat, was sie wirklich meinte, war ihre kleine Schwester Julia, aber die ist überhaupt ziemlich ausgefallen. Man hatte ständig das Gefühl, als würde hinter dem, was laut gesagt wurde, ein ganz anderer Dialog stattfinden. Ich weiß nicht richtig, wie ich das erklären soll. Es war, als würden sie eine Codesprache benutzen und jemand hätte vergessen, mir den passenden Schlüssel zu geben.«
»Was meinst du damit, daß Julia ausgefallen ist?«
»Wie du bestimmt weißt, hat Birgit Julia spät bekommen. Sie war schon weit über die Vierzig, und das Kind war nicht geplant. Also ist Julia irgendwie immer das Kuckucksjunge im Nest geblieben. Es kann auch nicht ganz einfach gewesen sein, eine Schwester wie Alex zu haben. Julia war kein schönes Kind und ist auch als Erwachsene wohl nicht gerade attraktiver geworden, und du weißt ja, wie Alex ausgesehen hat. Birgit und Karl-Erik waren immer völlig auf Alex konzentriert, und Julia wurde ganz einfach vergessen. Um damit umgehen zu können, vergrub sie sich in sich selber. Aber ich mag sie. Unter der mürrischen Oberfläche steckt etwas. Ich hoffe nur, jemand nimmt sich die Zeit, dorthin vorzudringen.«
»Wie hat sie auf Alex’ Tod reagiert? Wie war die Beziehung der Schwestern zueinander?«
»Danach mußt du wohl Birgit oder Karl-Erik fragen. Ich habe Julia über ein halbes Jahr nicht gesehen. Sie studiert Pädagogik oben im Norden, in Umeä, und fährt ungern von dort weg. Sie war nicht mal letzte Weihnachten zu Hause. Was die Beziehung zu Alex angeht, so hat Julia ihre große Schwester immer vergöttert. Alex war schon auf dem Internat, als Julia geboren wurde, also war sie nicht sehr viel zu Hause, aber wenn wir zu Besuch bei der Familie waren, ist Julia ihr wie ein Hündchen auf den Fersen geblieben. Alex kümmerte sich nicht viel darum, sondern ließ Julia machen. Manchmal konnte sie genervt reagieren und fauchte Julia an, aber meistens hat sie die Kleine einfach ignoriert.«
Erica fühlte, daß sich das Gespräch dem Ende zuneigte. In den Pausen zwischen den Sätzen hatte totale Stille in dem großen Haus geherrscht, und sie ahnte, daß es trotz aller Pracht für Henrik Wijkner hier sehr einsam geworden war.
Erica erhob sich und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie mit beiden Händen, hielt sie ein paar Sekunden fest, ließ sie dann los und ging ihr zur Tür voraus.
»Ich hatte vor, zur Galerie zu fahren und sie mir ein bißchen anzusehen.«
»Eine gute Idee. Alex war ungeheuer stolz darauf. Sie hat den Betrieb von Grund auf gemanagt, zusammen mit einer Freundin aus der Pariser Studienzeit, Francine Bijoux. Jetzt heißt sie allerdings Sandberg. Wir haben uns auch privat recht viel getroffen, selbst wenn das etwas weniger geworden ist, seit Francine und ihr Mann die Kinder haben. Sie ist bestimmt in der Galerie, ich rufe sie an und erkläre ihr, wer du bist, dann ist sie ganz sicher bereit, ein bißchen von Alex zu erzählen.«
Henrik hielt Erica die Tür auf, und mit einem letzten Dankeschön drehte sie ihm den Rücken zu und ging zum Auto.
In dem Augenblick, als sie aus dem Wagen stieg, öffnete der Himmel seine Schleusen. Die Galerie lag in der Chalmersgatan, parallel zur Avenyn, doch nachdem sie eine halbe Stunde im Kreis gefahren war, hatte sie aufgegeben und das Auto auf Heden geparkt. Das war eigentlich nicht besonders weit weg, aber im strömenden Regen kam es ihr wie zehn Kilometer vor. Außerdem kostete das Parken zehn Kronen die Stunde, und Erica spürte, wie ihre Stimmung immer schlechter wurde. Einen Schirm hatte sie natürlich auch nicht mitgenommen, und sie wußte, daß ihre Locken nur zu bald aussehen würden, als hätte sie sich eigenhändig an einer Dauerwelle versucht.
Sie überquerte rasch die Avenyn und konnte gerade noch der Vierer-Straßenbahn ausweichen, die ratternd in Richtung Mölndal fuhr. Nachdem sie am »Valand« vorbeigekommen war, wo sie während der Studienzeit so manchen wilden Abend verbracht hatte, bog sie nach links in die Chalmersgatan ab.
Die »Galerie Abstrakt« lag linker Hand, mit großen Schaufenstern zur Straße. Eine Türglocke läutete, als sie hineinging, und sie sah, daß die Räumlichkeit viel größer war, als sie von außen gedacht hatte. Wände, Fußboden und Decke waren weiß
Weitere Kostenlose Bücher