Die Eisprinzessin schläft
Kopf hängen und weinte, und mit ihren Tränen ertränkte sie diese schwache Stimme. Der Hörer blieb auf dem Boden liegen.
Erica warf die Decke gereizt zur Seite und schwang die Beine über die Bettkante. Sie bereute ihre harten Worte zu Anna, aber ihre schon vorher schlechte Stimmung und der Mangel an Schlaf hatten sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie versuchte, Anna ihrerseits anzurufen, aber nur das Besetztzeichen war zu hören.
»Scheiße!«
Der Hocker vor dem Spiegeltisch bekam unverschuldet einen Tritt, aber anstatt sich jetzt besser zu fühlen, hatte Erica einen solchen Volltreffer gelandet, daß sie jaulend auf einem Bein herumhüpfte und sich den Zeh hielt. Sie bezweifelte stark, daß selbst eine Entbindung so weh tun könnte. Als der Schmerz verebbt war, stellte sie sich wider besseres Wissen auf die Waage.
Ihr war klar, daß sie das nicht tun sollte, aber die Masochistin in ihr zwang sie, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie zog das T-Shirt aus, in dem sie schlief. Das machte immerhin ein paar Gramm aus, und sie überlegte sogar, ob der Slip einen Unterschied ergeben könnte. Wahrscheinlich nicht. Sie stieg mit dem rechten Fuß zuerst auf die Wiegefläche, ließ aber einen Teil des Gewichts auf dem linken ruhen, der noch immer auf dem Fußboden stand. Schrittweise erhöhte sie die Gewichtsübertragung auf das rechte Bein, und als die Nadel die sechzig erreichte, wünschte sie, sie möge da stehenbleiben. Aber nichts da. Als Erica am Ende das ganze Gewicht auf die Waage brachte, zeigte die unbarmherzig dreiundsiebzig Kilo an. Na ja. Ungefähr das, was sie befürchtet hatte, nur noch um ein Kilo schlimmer. Sie hatte vermutet, zwei Kilo zugelegt zu haben, aber die Waage zeigte sogar drei Kilo mehr seit dem letzten Wiegen, was am Morgen von Alex’ Tod gewesen war.
Im nachhinein erschien es ihr absolut unnötig, sich da draufgestellt zu haben. Am Hosenbund war zwar zu merken gewesen, daß sie zugenommen hatte, aber bis zu dem Augenblick, an dem einem die Sache schwarz auf weiß bewiesen wurde, war Selbstverleugnung eine dankbare Begleiterin. Alles erschien ihr hoffnungslos, und sie hatte große Lust, das Essen mit Patrik am heutigen Abend abzusagen. Wenn sie ihn traf, wollte sie das Gefühl haben, sexy, schön und schlank zu sein, nicht aufgedunsen und fett. Sie schaute düster auf ihren Bauch und probierte, ihn so weit wie möglich einzuziehen. Sinnlos. Sie betrachtete sich im Standspiegel von der Seite und versuchte statt dessen, ihn, so weit sie konnte, herauszustrecken. Genau, dieses Bild entsprach viel mehr dem Gefühl, das sie jetzt von sich hatte.
Seufzend stieg sie in eine weite Jogginghose mit tolerantem Gummizug und streifte das T-Shirt über, in dem sie geschlafen hatte. Sie gelobte sich, von Montag an etwas gegen das Gewicht zu unternehmen. Jetzt anzufangen lohnte sich nicht, denn sie hatte bereits ein Drei-Gänge-Menü für den Abend geplant. Eine Sache war schließlich sicher: Wollte man einen Mann mit seinen Kochkünsten beeindrucken, dann waren Sahne und Butter als Zutaten unentbehrlich. Der Montag war außerdem immer ein guter Tag, um mit einem neuen Leben zu beginnen. Zum hundertausendstenmal gelobte sie sich hoch und heilig, am Montag mit Gymnastik anzufangen und sich an ihre Weightwatcher-Diät zu halten. Um ein neuer Mensch zu werden. Für heute aber mußte sie es bleibenlassen.
Ein größeres Problem war schuld daran, daß sie sich seit gestern fast zu Tode gegrübelt hatte. Alternativen waren im Kopf hin und her gewälzt worden, und sie hatte überlegt, was sie tun sollte, ohne bisher auch nur ein bißchen klüger geworden zu sein. Plötzlich verfügte sie über ein Wissen, auf das sie nur zu gern verzichtet hätte.
Aus der Kaffeemaschine duftete es verlockend, und das Leben erschien ihr ein wenig freundlicher. Wirklich phantastisch, was so ein heißes Getränk fertigbringen konnte. Sie goß sich eine Tasse ein und trank den puren Kaffee mit Genuß gleich an der Spüle. Aus Frühstück hatte sie sich nie viel gemacht, und angesichts des bevorstehenden Abends konnte sie gern auf ein paar Kalorien verzichten.
Als es an der Tür klingelte, war sie so bestürzt, daß sie sich mit dem Kaffee das T-Shirt bekleckerte. Sie fluchte lauthals und fragte sich, wer wohl so früh am Morgen etwas von ihr wollte. Sie schaute auf die Küchenuhr. Halb neun. Sie stellte die Tasse ab und öffnete verwundert die Tür. Draußen auf der Treppe stand Julia Carlgren und schlug die Arme um den
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