Die Eisprinzessin schläft
nur so lange, wie sie für die Antwort brauchte.
»Es sah aus, als würdet ihr euch sehr gut verstehen.«
»Ja, ich vermute, daß Nelly etwas an mir findet, was sonst keiner sieht.«
Ihr Lächeln war bitter und nach innen gekehrt. Erica empfand mit einemmal große Sympathie für Julia. Das Leben als häßliches junges Entlein mußte hart für sie gewesen sein. Doch sie schwieg, und nach einem Weilchen fühlte Julia sich durch die Stille gezwungen weiterzureden.
»Wir sind ja im Sommer immer hier gewesen, und nach der Achten rief Nelly bei Papa an und fragte, ob ich nicht ein bißchen hinzuverdienen, also den Sommer im Büro arbeiten möchte. Das konnte ich ja kaum ablehnen, und seitdem habe ich dort jeden Sommer gearbeitet, bis ich mit der Lehrerausbildung angefangen habe.«
Erica begriff, daß die Antwort das meiste verschwieg. So mußte es einfach sein. Aber ihr war auch klar, daß sie aus Julia nicht viel mehr über die Beziehung zu Nelly herausbekommen würde.
Sie setzten sich wieder aufs Sofa in der Veranda und tranken schweigend ein paar Schlucke. Beide schauten hinaus aufs Eis, das sich bis zum Horizont erstreckte.
»Es muß hart für dich gewesen sein, als meine Eltern mit Alex weggezogen sind.« Julia hatte als erste das Wort wieder ergriffen.
»Ja und nein. Wir haben damals nicht mehr zusammen gespielt. Natürlich war es traurig, aber es war nicht so furchtbar, als wenn wir immer noch dick befreundet gewesen wären.«
»Was ist passiert? Warum wart ihr nicht mehr zusammen?«
»Wenn ich das wüßte.«
Es verwunderte Erica, daß die Erinnerung noch immer schmerzte. Daß sie den Verlust von Alex noch immer so stark empfand. Seitdem waren viele Jahre vergangen, und es war ja wohl mehr die Regel als die Ausnahme, daß sich enge Kindheitsfreunde voneinander entfernten. Sie glaubte, der Grund könnte sein, daß die Sache keinen natürlichen Abschluß gefunden hatte, und vor allem, daß sie selbst keine Erklärung dafür wußte. Es hatte keinen Streit wegen irgend etwas gegeben, Alex hatte sich auch keine neue Busenfreundin zugelegt, da war nichts von alledem gewesen, was Freundschaften normalerweise zerstört. Alex hatte sich nur zurückgezogen hinter eine Mauer der Gleichgültigkeit und war dann, ohne ein Wort zu sagen, verschwunden.
»Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, soviel ich weiß, nicht. Alex hat nur irgendwie das Interesse verloren. Rief mich nicht mehr an und erkundigte sich auch nicht, ob wir irgendwas zusammen machen wollten. Wenn ich sie fragte, hat sie nicht nein gesagt, aber ich merkte, daß es sie überhaupt nicht interessierte. Dann habe ich sie auch nicht mehr gefragt.«
»Hatte sie irgendwelche neuen Freundinnen, mit denen sie zusammen war?«
Erica fragte sich, warum Julia all diese Fragen über sie und Alex stellte, hatte aber selbst nichts dagegen, die Erinnerung aufzufrischen. Das konnte für das Buch nützlich sein.
»Ich habe sie nie mit jemand anderem gesehen. In der Schule blieb sie die ganze Zeit für sich. Aber trotzdem …«
»Ja, was?« Julia beugte sich eifrig vor.
»Ich hatte trotzdem das Gefühl, daß da jemand war. Aber ich kann mich total irren. Es war nur ein Gefühl.«
Julia nickte nachdenklich, und Erica schien es, als würde sie nur etwas bestätigen, was Julia bereits wußte.
»Entschuldige, daß ich frage, aber warum willst du das alles wissen?«
Julia vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Die Antwort klang ausweichend. »Sie war ja soviel älter als ich und schon im Ausland, als ich geboren wurde. Außerdem waren wir sehr unterschiedlich. Ich finde, ich habe sie nie richtig kennengelernt. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe zu Hause nach Bildern von ihr gesucht, aber wir haben fast keine. Da habe ich an dich gedacht.«
Erica spürte, daß Julias Antwort so wenig an Wahrheit enthielt, daß sie vielleicht sogar eine Lüge sein konnte. Dennoch gab sie sich widerstrebend zufrieden.
»Ja, dann werde ich mal wieder gehen. Vielen Dank für den Kaffee.« Julia stand abrupt auf, ging in die Küche und stellte die Tasse ins Spülbecken. Sie hatte es plötzlich eilig wegzukommen. Erica folgte ihr zur Tür.
»Danke, daß ich die Bilder sehen durfte. Das war für mich sehr wichtig.«
Dann war sie weg.
Erica stand lange in der Tür und schaute ihr nach. Eine graue, unförmige Gestalt, die die Straße hinuntereilte, die Arme als Schutz gegen die beißende Kälte eng an den Körper gepreßt. Erica zog langsam die Tür zu und begab sich hinein in die
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