Die Eisprinzessin schläft
Leib, um die Kälte zu vertreiben.
»Guten Morgen.« Ericas Stimme klang fragend.
»Ja, guten Morgen.« Mehr kam von Julia nicht.
Erica fragte sich, was die jüngere Schwester von Alex an einem frühen Dienstagmorgen auf ihrer Vortreppe machte, aber ihre gute Erziehung ließ sie Julia hereinbitten.
Die Besucherin stapfte brüsk ins Haus, hängte ihre Jacke auf und ging vor Erica ins Wohnzimmer. »Könnte ich eine Tasse von dem Kaffee bekommen, den ich hier rieche?«
»Äh, jaa, ich kümmere mich drum.«
Erica machte ihr in der Küche eine Tasse zurecht und verdrehte die Augen, ohne daß Julia es sehen konnte. Irgendwas war mit diesem Mädel nicht ganz in Ordnung. Sie reichte ihr die Tasse, behielt die eigene in der Hand und bat Julia, auf dem Korbsofa in der Veranda Platz zu nehmen. Ein Weilchen tranken sie schweigend. Erica beschloß zu warten. Julia sollte selbst erzählen, warum sie gekommen war. Ein paar Minuten vergingen in gedrückter Stimmung, bevor Julia den Mund aufmachte.
»Wohnst du jetzt hier?«
»Nein, nicht wirklich. Ich wohne in Stockholm, bin aber jetzt hier, um alles im Haus in Ordnung zu bringen.«
»Ja, ich habe von der Sache gehört. Mein Beileid.«
»Danke. Dasselbe möchte ich auch sagen.«
Julia lachte kurz und belustigt auf, was Erica verblüffend und unangebracht fand. Ihr fiel das Dokument ein, was sie bei Nelly Lorentz im Papierkorb gefunden hatte, und sie überlegte, wie all die Teile wohl zusammenpaßten.
»Du fragst dich bestimmt, warum ich hier bin.« Julia schaute Erica mit ihrem seltsam festen Blick an.
Erica fiel erneut auf, wie diametral verschieden sie von ihrer großen Schwester war. Julias Haut war uneben, voller Aknenarben, und das Haar sah aus, als hätte sie es mit der Nagelschere selbst geschnitten. Ohne Spiegel. Ihrem Aussehen haftete etwas Ungesundes an. Eine kränkliche Blässe lag wie ein fahler Film auf der Haut. Wie es schien, teilte sie auch das Interesse an Mode nicht mit ihrer Schwester. Ihre Kleidung wirkte, als sei sie in Läden für alte Tanten gekauft, so weit von der heutigen Mode entfernt, wie es nur ging.
»Hast du irgendwelche Fotos von Alex?«
»Wie bitte? Fotos? Ja, ich glaube schon, daß ich die habe. Sogar eine ganze Menge. Mein Vater fotografierte sehr gern, also hat er uns als Kinder ständig geknipst. Und Alex ist ja oft hier gewesen, also ist sie bestimmt auf einer Menge Bilder drauf.«
»Kann ich sie sehen?«
Julia blickte Erica herausfordernd an, als würde sie ihr vorwerfen, daß sie noch nicht losgegangen war, um ihr die Fotos zu bringen. Dankbar ergriff Erica die Gelegenheit, Julias eindringlichem Blick für einen Moment zu entkommen, entschuldigte sich und ging die Alben holen.
Die lagen in einem Koffer auf dem Dachboden. Sie hatte es beim Aufräumen noch nicht bis dorthin geschafft, aber sie wußte sehr genau, wo der Koffer stand. Alle Fotos der Familie wurden darin aufbewahrt, und sie war davor zurückgeschreckt, sie durchsehen zu müssen. Eine große Anzahl der Bilder stapelte sich unsortiert, aber sie wußte, daß die, nach denen sie suchte, sorgfältig in Alben eingeklebt waren. Systematisch blätterte sie diese von oben nach unten durch, und im dritten Album fand sie, worauf sie aus war. Auch im vierten gab es Bilder von Alex, und mit beiden unterm Arm stieg sie vorsichtig die Bodenleiter hinunter.
Julia saß in genau derselben Haltung wie zuvor da. Erica fragte sich, ob sie sich überhaupt bewegt hatte, als sie selbst weg gewesen war.
»Hier habe ich das, was von Interesse sein könnte.« Erica schnaufte und ließ die schweren Fotoalben auf den Sofatisch fallen, so daß der Staub aufwirbelte.
Julia stürzte sich eifrig auf das erste von ihnen, und Erica setzte sich neben sie aufs Korbsofa, um die Bilder erklären zu können.
»Wann ist das hier?« Julia zeigte auf das allererste Foto, das sie von Alex auf der zweiten Seite des Albums gefunden hatte.
»Laß mal sehen. Das muß … 1974 sein. Ja, ich glaube, das stimmt. Wir waren da etwa neun Jahre alt.« Erica strich mit dem Finger über das Bild und verspürte ein starkes Gefühl der Wehmut. Es war so lange her. Sie und Alex standen an einem warmen Sommertag nackt im Garten, und wenn sie ihre Erinnerung nicht trog, hatten sie deshalb keine Sachen an, weil sie schreiend durch den Wasserstrahl des Gartenschlauchs gerannt waren. Was auf dem Foto ein bißchen merkwürdig wirkte, war, daß Alex wollene Fausthandschuhe trug.
»Warum hat sie Handschuhe an? Das hier
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