Die Elben - 02 - Die Könige der Elben
Sonnenaufgang brach man auf.
Gegen Mittag des folgenden Tags erreichten Keandirs Krieger ein Gebiet, wo der Urwald des Waldreichs bis unmittelbar an die ersten Felswände der nordbergischen Höhenkette heranreichte. Ein Chor unheimlicher, teils sehr eigentümlicher Laute drang aus dem dichten Unterholz. Hin und wieder hörte man den Schlag von Vogelschwingen oder Schreie, die ebenso gut von einem Elben oder Menschen stammen konnten wie von einem wilden Tier.
Normalerweise, so berichtete Herzog Isidorn, zogen es seine Soldaten vor, die Pässe im Gebirge zu benutzen, und mieden die Nähe dieses verwunschenen Waldes, den sie als das Reich der Zentauren ansahen. Aber auch von ihnen lebten im nordwestlichen Zipfel des Waldreichs nur wenige, so als wäre selbst ihnen diese Region unheimlich.
Als der Elbenkönig Sokranos darauf ansprach, bestätigte der diesen Gedanken. »Es handelt sich um den ältesten Teil des Waldes«, erklärte er. »Zumindest der Legende nach. Seht Euch nur die knorrigen Bäume an, König Keandir. Nirgends sonst werdet Ihr diese seltsamen Arten finden. Manche dieser Bäume mögen schon ein ganzes Zeitalter lang hier stehen.«
»Nun, ich denke jedoch nicht, dass es nur die Achtung vor dem Alter ist, die die Zentauren diese Gegend meiden lässt«, erwiderte Keandir.
»Da habt Ihr recht. Doch es ist ganz gewiss nicht so, dass sich die Zentauren davor fürchten, hierher zu kommen. Ganz im Gegenteil, viele Stämme bringen ihre Toten in diesen Wald, damit sie im Waldboden ihre letzte Ruhe finden und in den Baumgöttern weiterleben.«
»Dann ist es also der Respekt vor den Toten.«
Der Zentaur nickte. »Ja – und die Erkenntnis, dass man die Toten zwar ehren, ihnen aber nicht gestatten sollte, ihren Schatten über die Lebenden zu werfen – geschweige, denn ihr Schicksal zu bestimmen.«
»Ein Gedanke, der mir gefällt«, gestand Keandir.
»Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Inwiefern?«
»Nun, habt Ihr nicht auch Euch und Euer Volk von der Herrschaft der Toten über die Lebenden befreit, indem Ihr den Anspruch erhoben habt, Euer eigenes Schicksal zu schaffen?«
Keandir zuckte mit den Schultern. »Man könnte es so interpretieren.«
»Doch begingen die Elben beim Aufbau ihres Reiches einen Fehler«, sagte Sokranos überzeugt, »indem sie ihren Toten keinen bestimmten Ort zuwiesen.«
»Unsere Toten gehen zumeist ein in jene Sphäre, die wir Eldrana nennen, das Reich der Jenseitigen Verklärung«, erläuterte Keandir.
Der Zentaur lächelte. »Ich meinte einen Ort auf dieser Welt.
Einen Ort, der unmittelbar und letztlich für jeden zugänglich ist, der mit den Toten in Verbindung zu treten wünscht.«
»Da habt Ihr recht, einen solchen Ort haben wir Elben nicht.«
»Meiner Überzeugung nach ist das der tiefere Grund dafür, weshalb Ihr Elben die geistige Verbindung zu Euren Vorfahren verloren habt.«
»Ehrlich gesagt, ich habe das unter diesem Aspekt noch nie betrachtet«, gab Keandir zu. »Ich bin der Ansicht, dass die zunehmende spirituelle Schwäche unserer Schamanen und Magier daran schuld ist und gewisse Veränderungen in der Natur der Magie, die sich bereits erkennen lassen.«
»O nein«, widersprach Sokranos. »Ich kenne diese These, und ich habe sie mit vielen Eurer Art in langen philosophischen Streitgesprächen diskutiert. Meiner Ansicht nach verwechselt Ihr Elben, was dies betrifft, Ursache und Wirkung.«
»Ein Zentaur, der sich mit dem König der Elben in einen philosophischen Disput begibt!«, staunte Thamandor. »Es gibt doch immer wieder Dinge, die man kaum für wahr halten mag!«
Immer dichter wurde der Wald, und Siranodir mit den zwei Schwertern machte den Vorschlag, doch mit der Flammenlanze einen Weg zu bahnen. Aber dagegen sprach nicht nur die Gefahr, einen Waldbrand zu verursachen in diesem Gebiet, das den Zentauren heilig war, sondern auch die Überlegung, dass bisher niemand wusste, wie viele Flammenschüsse diese Waffe mit ihrer bisherigen Ladung an
»Naranduinitischem Steingewürz« abgeben konnte – obwohl Thamandor selbst glaubte, dass man damit mindestens ein Jahrhundert lang fleißig herumsengen konnte. Er stützte diese Aussage auf seine Beobachtungen, die er einst auf der Insel des Augenlosen Sehers gemacht hatte: Die Ouroungour genannten geflügelten Affen hatten dort mit Hilfe jener Gesteinsart, aus welcher der Waffenmeister das
»Naranduinitische Steingewürz« gewonnen hatte, ihre Waffen stetig erneuert. Sicherlich hatten sie die Steine, aus denen
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