Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
kaputtmachen, damit ich das alles vergesse. Und dann, wenn ich von der Schule heimkomme, sind die Karten plötzlich nicht mehr in meinem Geheimfach.
Es ist eigentlich gar kein richtiges Fach. Obwohl das natürlich das Allerbeste wäre. Das habe ich einmal in einem Mantel- und Degenfilm gesehen. Da hatte eine Dame in einem Schloss einen kleinen Sekretär, bei dem man eine Seitenleiste hineindrücken konnte. Dann schnappte ein doppelter Boden auf, in dem die Dame die Briefe von fremden Männern aufhob. So einen Sekretär hätte ich auch gerne.
Aber so wie ich es jetzt mache bin ich auch ganz zufrieden. Ich habe hinter die unterste Schublade meiner Kommode ein Kuvert aus Karton geklebt. Da stecken die Zirkuskarten drin. Die Kommode ist nicht so tief. Ich muss nur die Schublade ein Stück aufziehen und kann dann nach hinten durchgreifen und die Karten aus dem Kuvert ziehen und wieder zurückstecken. Das Kuvert sieht man nur, wenn man die Kommodenschublade komplett herauszieht. Aber das macht natürlich niemand. Außer wenn wir mal umziehen, aber dann stecke ich die Karten am Umzugstag eben unter mein T-Shirt, bis alles vorbei ist.
Trotzdem habe ich Panik bekommen. Frau Dr. Müller-Nöllendorf ist mir nicht ganz geheuer. Vielleicht kann sie Gedankenströme lesen und ich muss ihr gar nichts von den Elefanten erzählen. Sie kann es schlussfolgern. Das können Psychoärzte. Es ist so ähnlich wie im Replikantentest. Sie fragen ganz harmlose Sachen und schlussfolgern dann ganz schlimme Dinge daraus. Und wegen der harmlosen Fragen ist man natürlich auch nicht misstrauisch. Vielleicht ist es besser, wenn ich Frau Dr. Müller-Nöllendorf gar nichts mehr erzähle. Vielleicht vermutet sie schon längst, dass meine und Phillipps Zirkuskarten hinten an meiner Kommodenschublade stecken.
Weil ich Phillipp nicht fragen konnte, habe ich fieberhaft in meiner Filmdatenbank im Kopf gestöbert, ob es da nicht einen ähnlichen Fall gibt. Aber es gab keinen. Vielleicht ist das mit den Zirkuskarten auch zu ausgefallen. Ich war drei Tage völlig aufgekratzt und in Panik und habe die Zirkuskarten Tag und Nacht in einem Gefrierbeutel unter meinem T-Shirt getragen. Aber dann ist wegen dem Pflaster, mit dem ich sie festgeklebt habe, die Haut auf meinem Bauch wund geworden. An einem Nachmittag, als ich bei Mona war, ist mir dann aber was eingefallen.
Eigentlich war es ein Zufall. Monas Mutter sieht immer Nachrichten. Ungefähr 400-mal am Tag. Das ist eigentlich völlig gaga. Vielleicht ist Monas Mutter auch therapiewürdig. Aber an dem Tag hat sie mich gerettet. Monas Mutter schaltet den Fernseher ungefähr immer 20 Stunden vor den Nachrichten ein, für den Fall, dass die Uhren falsch gehen. Und da lief an diesem Tag eine Dokumentation über die englische Königin und noch irgendjemand anderen mit einer Krone. Ich weiß es nicht mehr genau. Was ich aber genau weiß ist, dass sie gar keine echten Kronen aufsetzen, sondern Fälschungen. Die echte Krone liegt im Tower-Verlies hinter fünf Meter dicken Mauern und kommt dort überhaupt nie raus. Weil die Krone zu wertvoll ist und niemand das Risiko eingehen will, dass sie kaputt geht oder gestohlen wird. Deshalb hat die Versicherung angeordnet, dass die echte Krone ins Verlies kommt und die Königin nur eine Kopie aufsetzen darf. Aber die Königin ist echt. Obwohl, ganz genau weiß auch das keiner.
Im Grunde hat die englische Königin mit ihrer Krone dasselbe Problem wie ich mit unseren Zirkuskarten. Da habe ich beschlossen, dass ich auch nur noch eine Kopie benutze und das Original sicher verwahre. Ich habe zwar keinen Tower, aber Monas Kinderzimmer ist genauso sicher. Selbst wenn Frau Dr. Müller-Nöllendorf zusammen mit meinen Eltern mein ganzes Kinderzimmer auf den Kopf stellen würde, würde sie nur eine Kopie finden.
Deshalb habe ich sofort Mona eingeweiht und ihr die wunden Stellen auf meinem Bauch gezeigt. Sie hat sofort ihr Sparschwein kaputt gemacht, weil ich nicht genug Geld dabei hatte. Dann haben wir uns aus der Wohnung geschlichen, während Monas Eltern Nachrichten schauten, und sind in den Kopierladen auf der anderen Straßenseite. Jetzt habe ich fünf Kopien von meinen Karten, die man kaum vom Original unterscheiden kann. Die Plastikfolie mit den echten Karten haben wir hinter Monas Kommodenschublade geklebt. Ich denke, das war eine ziemlich gute Idee. Jetzt sind Phillipps und meine Zirkuskarte für alle Zeiten sicher.
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Bei meinem ersten Besuch bei Frau Dr.
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