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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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und trug eine lange Liste bei sich mit Protesten gegen die Enteignung jüdischen Bodens und Besitzes, die nach dem deutschen Einmarsch erfolgt war.
    Vor dem Hotel stand ein großer Walnussbaum. Nach zwanzig Minuten wurde Klajnzettel von zwei uniformierten SS-Männern aus dem Hotel eskortiert. Sie nahmen ein langes Seil und schlangen es dem Doktor um Knöchel und Knie, worauf sie ihn in den Baum hievten, so |52| dass er mit dem Kopf nach unten zu hängen kam. Um den Baum versammelte sich eine große Schar polnischer Männer und Frauen, die sich zuerst entsetzten, dann aber über die Verrenkungen des kopfüber im Baum hängenden Klajnzettel zu lachen begannen. Auch der eine oder andere Jude befand sich in der Menge, doch niemand wagte einzugreifen. Ein paar beschäftigungslose Uniformierte, die vor dem Hotel Wache hielten, begannen mit Steinen nach Klajnzettel zu werfen, damit sein Schreien und Brüllen aufhörte. Nach einer Weile beteiligten sich auch ein paar der Polen. Am Ende hagelte es Steine auf den Walnussbaum, und der Mann, der dort wie eine Fledermaus hing, seinen eigenen Rockschoß vorm Gesicht, rührte sich nicht mehr.
    Einer von denen, die Doktor Klajnzettels Steinigung beigewohnt hatten, war Mordechai Chaim Rumkowski. Er hatte eigene Erinnerungen daran, wohin Steinwürfe führen konnten, und glaubte obendrein über die Art jenes Untiers Bescheid zu wissen, das die polnische Bevölkerung der Stadt unter seine rauhe Echsenhaut genommen zu haben schien. Er glaubte auch zu wissen, dass die Deutschen, wenn sie von Juden sprachen, keine Menschen meinten, sondern ein möglicherweise nützliches, im Grunde aber verabscheuungswürdiges Gebrauchsmaterial. Ein Jude war eine Abnormität an sich; schon die Tatsache, dass der Jude sich gleichsam als eigenes Wesen sah, war monströs. Auf Juden konnte man nur in
kollektiver
Form verweisen. In festen Mengen. In Quoten, als Quantität. Also überlegte Rumkowski:
Um das Untier verstehen zu lassen, was du meinst, musst du selbst wie jenes denken. Keinen Einzelnen sehen, sondern eine Vielzahl.
    In dieser Situation wandte er sich mit einem Brief an Leister. Er war sorgfältig darauf bedacht zu unterstreichen, dass er in dem Schreiben allein seine
persönliche
Auffassung ausdrückte und diese also nicht zwangsläufig von den anderen Mitgliedern der Łódźer
kehilla
geteilt würde. Einen Vorschlag indes enthielt der Brief trotz alledem:
     
    Benötigen Sie siebenhundert Arbeiter, dann wenden Sie sich an uns: Wir geben Ihnen siebenhundert Arbeiter.
    Benötigen Sie tausend, dann geben wir Ihnen tausend. Doch verbreiten Sie keine Angst unter uns. Reißen Sie die Männer nicht von
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ihrer Arbeit weg, die Frauen nicht aus ihrem Zuhause, die Kinder nicht aus ihren Familien.
    Lassen Sie uns in Ruhe und Frieden leben – und wir versprechen Ihnen, soweit es in unseren Kräften steht, behilflich zu sein.
     
    Am Ende hörte also doch noch jemand auf Rumkowski.
    In einer Bekanntmachung vom 13. Oktober 1939 ließ Albert Leister mitteilen, dass er die alte
kehilla
von Łódź aufgelöst und stattdessen ihn, Mordechai Chaim Rumkowski, zum Vorsitzenden eines von jetzt an herrschenden Ältestenrates ernannt habe, der allein Rumkowski verantwortlich sei.

 
    |54|
Der Marsch ins Getto –
    Es ist Februar 1940.
    Schnee auf dem Boden. Der Himmel glattweiß, reglos darüber.
    Durch den Schnee rollen knarrende Wagenräder, Kaleschen mit wippender Federung; Lastkarren, vollbeladen mit Koffern und notdürftig festgezurrtem Mobiliar.
    Etliche gehen voran und ziehen das Gefährt, andere hinterher und schieben oder gehen seitlich davon, achten darauf, dass der kolossale Berg aus Koffern und Taschen nicht umkippt.
    Zehntausende in Bewegung. Feine Leute und Arbeiter. Der graue Wintertag macht keinen Unterschied. Einige gehen trotz der Kälte im Rock oder in Hemdsärmeln; vielleicht mit einer Decke oder einem Mantel um die Schultern, von der Gestapo, die jedes jüdische Zuhause weiterhin gründlich durchkämmt, aus ihren Verstecken getrieben. Aus den Häusern hört man sporadisch Schüsse. Zersplittertes Glas liegt im Schnee.
    Er singt, als er die Kinder von Helenówek eskortiert.
    Alles haben sie bei sich: auch Hausgehilfinnen, Köchinnen und Kindermädchen.
    Sie gleichen einer Reisegesellschaft. Festgezurrte Näpfe und Töpfe klappern.
    Fünf Fuhrwerke stehen ihnen zur Verfügung; darunter jener Wagen, der später zu seiner eigenen
droschke
werden sollte, mit herausklappbarem Einstieg und je einer

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