Die Elenden von Lódz
Silberplakette an den Seiten.
Er sitzt im vorderen Wagen neben dem Kutscher, Lev Kuper, zusammen mit ein paar von den Kindern: seine dicke Wintermütze auf dem Kopf und im Mantel mit pelzbesetztem Kragen. Auf der Kościuszki fahren sie an den Ruinen der Tempelsynagoge vorbei.
Den Kindern erzählt er von der Stadt, aus der er stammt.
|55| Sie gleicht jener, zu der sie unterwegs sind:
Eine
winzige
Stadt, erklärt er. So klein, dass sie in eine Streichholzschachtel passt.
Er markiert die Größe mit seinen tabakfleckigen Händen.
Seine Stimme ist hell, fast piepsig. Es ist die Kombination dieser dünnen, eintönigen Stimme mit der Schwere seines Körpers (er ist nicht groß oder auf andere Weise ausladend, aber
schwer
), die auf die Kinder, die das Pech hatten, ihm zu begegnen, einen so überwältigenden Eindruck macht; sie und der Zorn, der ihn unversehens und in seiner Intensität vollkommen faszinierend überkommen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen und über die Lippen spritzendem Speichel lässt er Sarkasmen über Praktikanten, Kontoristen oder Tagelöhner, die ihr Pensum nicht erfüllen, hageln, und eine Sekunde später folgt der Stock. Auch wenn seine Stimme sanft und mild klingt, was häufig der Fall ist, versteht man, dass man nicht widersprechen sollte.
Er ist sich der Wirkung, die er auf andere hat, deutlich bewusst; auf dieselbe intuitive Weise, wie sich ein Schauspieler des ihm auf der Bühne zur Verfügung stehenden Ausdrucksregisters bewusst ist. Spielt mal den kindlichen Idioten. Oder den emsigen zähen und zuverlässigen Arbeiter. Den alten weisen Mann mit halbblinden Augen und brüchiger Stimme, der das Leben an sich vorüberziehen sah. Er hat ein schier unheimliches Geschick, sich in diese verschiedenen Gestalten zu verwandeln oder Menschen ins Wort zu fallen und wie sie zu klingen –
Einen Schumacher gab es in dieser kleinen Stadt und einen Schmied.
(Jetzt klingt er wie ein Märchenerzähler:)
Einen Bäcker gab es und einen Bortenmacher.
Einen Böttcher gab es und einen Apotheker.
Einen Möbeltischler gab es und einen Seilmacher.
Und natürlich gab es auch einen Rabbiner.
(Der tief drinnen in der Synagoge wohnte, in einem ungeheizten Zimmer voller Bücher und Dokumente.)
Und einen Schullehrer gab es ebenfalls, einen Lehrer, der nicht wie eure Lehrer war, sondern der ein gutes Auge hatte und ein böses.
(Mit dem guten Auge schaute er all jene an, die von Nutzen waren – und mit dem bösen Auge jene, die nur untätig und faul herumstreunten.)
|56| Wenn er zu oder vor den Kindern spricht, wirkt seine dünne Stimme glatt und eben, wie ein weicher Stein, zugleich aber ist da ein leicht pedantischer Ton zu vernehmen. Zunge und Gaumen machen provisorisch Halt bei jeder Silbe, um sich zu vergewissern, dass die Kinder zuhören.
Und die Kinder lauschen tatsächlich:
Die Älteren mit einem Ausdruck blinder Faszination im Gesicht, als könnten sie nicht genug bekommen von den ausgewogenen, taktfesten Metronomschlägen dieser dünnen Stimme.
Auf die Jüngeren wirkt die Stimme womöglich noch hypnotischer. Sobald der Präses zu sprechen beginnt, ist es, als löse sich der Mensch vor ihnen in Luft auf, und nur seine Stimme bleibt zurück, frei im Raum schwebend wie die Glut der Zigarette, die er im Laufe der Erzählung seinem silbernen Etui entnommen und angezündet hat.
Und dann war da einer, der beherrschte ein wenig und viel von all dem, was ich euch jetzt erzähle: Kamiński hieß er.
Er zog Ochsen und Schafen die Haut ab.
Er beherrschte sogar die Kunst, diese Haut auf alte Weise zu gerben, was so vonstatten ging, dass man sie mit Fett einrieb und die Häute dann über offenem Feuer sengte.
Er verstand sich auch auf die Kunst, ein Uhrwerk zu reparieren.
Er mischte Kräuter zu verschiedenen Suden, die Wunden reinigten und Schwellungen behoben.
Er wusste genau, welche Art Lehm vonnöten war, um ihn zwischen die Ofensteine ausgebrannter Herde zu schmieren.
Es hieß, er könne sogar wilde Wölfe zähmen.
Der Präses schwieg eine Zeitlang.
Die Spitze seiner Zigarette schwoll rot an und wurde wieder matter, als er einen Zug nahm und dann noch einen.
Er hieß Kamiński
, fügte er still hinzu.
Von der Zigarettenglut beleuchtet, wurde das zerfurchte, alte Gesicht weicher und bekam etwas in sich Gekehrtes. Als sähe er den Mann, den er für sie heraufzubeschwören suchte, deutlich vor sich:
Er hieß Kamiński
…
Und über diesen Kamiński waren alle erbost.
|57| (Der Rabbiner war
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