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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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voller blanker Zähne wirkte.
Samstag ist leider im Getto kein Ruhetag
, sagte er lediglich, reichte Herrn Gelbroth die Dokumente zurück und verließ den Fabrikhof, gefolgt von seinen Männern.
    Trotz allem waren sie, also die Sonder, zu einem Entschluss gekommen: die Volksmenge
nicht
zu zerstreuen; obgleich sie es sehr wohl gekonnt hätten und die Vorschriften so lauteten. Auch die fliehende Schauspielertruppe hatten sie nicht in Gewahrsam genommen, sondern Bajglmans Wagen fahren lassen. Auch in den folgenden Monaten fuhr dieser herum. Mehr als ein Ressort sollte Freude an den
badchonim
haben, die bei ihnen auftauchten und die ständige Hungerqual mit ein paar dissonanten Akkorden auf der Geige und einigen Couplets vertrieben, die man wiedererkennen und mitsingen konnte.
    Doch der Klavierstimmer oben auf dem Wagen sah plötzlich sehr klein aus, wie er da zusammengekauert auf dem Berg von Requisiten hockte:
     
    Wer hätte gedacht, dass Samstag –
der schojte!

    sich von der Sonder anwerben ließe!
     
    Doch als er dann die Lippen spitzte, um die Melodie zu einem Lied zu finden, das von einem einsamen Kinderheimjungen handelte, der als |411|
polizajt
ausgerechnet in Gertlers Armee landete, fingen sein Körper und sein Gesicht zu zittern an, ein Ton aber war nicht zu hören. Mit diesem Lied sollte der Klavierstimmer viele Versuche unternehmen, in verschiedenen Tonarten und Registern; doch nicht einmal in der eigenen zementgrauen Tonart des Gettos – entleert und aller Resonanz beraubt – schien es eine Melodie zu geben, die stimmte.

 
    |412| Rosa Smoleńska hatte alles, was in ihren Kräften stand, getan, um zu erfahren, was mit den Kindern aus dem Grünen Haus geschehen war. Im Büro in der Dworska standen mehrere graue Ordner, zu denen offiziell allein Fräulein Wołk Zugang hatte, ab und an aber schlich sich Rosa hinein, um darin zu lesen. Einmal war sie von Fräulein Wołk höchstselbst ertappt worden.
Wenn ich noch einmal sehe, dass Sie in den Protokollen des Adoptionskomitees blättern, werde ich persönlich für Ihre Deportation sorgen
, hatte Fräulein Wołk gesagt, während Rosa den Rock um ihre Beine zusammennahm und dann einfach kerzengerade dastand, die Arme herabhängend und den Blick zu Boden gerichtet, wie sie es gelernt hatte zu tun, jedes Mal, wenn die Obrigkeit ihr etwas vorwarf.
Nein, Herr Rumkowski, ich habe nicht gelauscht
, hatte sie damals in Helenówek gesagt, als der Älteste sich mit den »unartigen« Mädchen eingeschlossen hatte; dasselbe sagte sie nun:
     
    Nein, Fräulein Wołk, das muss ein Missverständnis sein,
    Fräulein Wołk, solche Ordner habe ich nicht gesehen.
     
    Um dann Tag für Tag zu Fräulein Wołks Büro zurückzukehren und sich langsam, Ordner für Ordner, sämtliche Namen einzuprägen.
    Hier gab es in erster Linie all die Präseskinder. So wurden jene genannt, für die es dem Ältesten während seiner großen Kampagne zur »Rettung der Gettokinder« geglückt war, Lehrlingsplätze zu beschaffen: entweder in der neu eingerichteten Lehrlingsschule in der Franciszkańska oder direkt in der Zentralschneiderei. Aus ihnen waren junge mustergültige Arbeiter geworden, und ebendiese Präseskinder waren besonders beliebt bei denen, die nach der
schpere
an das Sekretariat Wołkowna schrieben und eine Adoption beantragten.
    Es war auch offensichtlich, dass viele dieser Antragsteller Menschen |413| waren, die bei den Septemberereignissen selbst Kinder verloren hatten.
    Kazimirs neue Eltern, der frühere Straßenbahnfahrer Jurczak Topolinski und seine Frau, hatten ihre beiden Jungen verloren, einer sechs, der andere vier Jahre alt. Nataniels Pflegeeltern hatten eine Tochter verloren, geboren am selben Tag, als die Deutschen in Polen einmarschiert waren, am 1. September 1939. »Ich dachte immer«, sagte die Mutter, »die Tatsache, dass meine Tochter genauso alt war wie der Krieg, würde sie schützen, doch schon am ersten Tag des Ausgangsverbots kamen die Deutschen und nahmen sie mir weg. Können Sie mir das erklären, Fräulein Smoleńska? Wie kann man verlangen, dass ein kleines Mädchen von drei Jahren ganz allein klarkommen soll, ohne seine Mutter?«
    Es gab auch Überlebensgeschichten. Im Getto wurde viel über die sogenannten
Brunnenkinder
gesprochen. Von dieser Geschichte existierten verschiedene Versionen. Eine handelte von einem zweijährigen Mädchen, das in eine Schaukel aus Bettzeug gesetzt und dann mit Hilfe der Kette, an die man gewöhnlich den Wassereimer

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