Die Elenden von Lódz
hängte, in den Brunnen hinabgelassen worden war. Als die Deutschen kamen, sagten die Eltern, das Mädchen sei an Typhus gestorben, und wegen der Ansteckungsgefahr hätten sie ihre gesamte Kleidung verbrennen und auf dem Hof vergraben müssen. Eine Woche hing das Mädchen in ihrer Bettzeugschaukel im kalten Brunnen. Tagtäglich ließen sie Nahrung und Wasser zu ihm hinab, bis das Ausgangsverbot aufgehoben wurde und sie das Kind wieder nach oben holen konnten. Da war es gänzlich durchgefroren und matt, aber es war am Leben.
Und es war noch immer am Leben. Denn was diese Brunnenkinder anbelangte, war es seltsamerweise so, dass es niemanden, nachdem das Wüten der
szpera
-Aktion zu Ende war, kümmerte, dass sie auf irgendwelchen Deportationslisten gestanden hatten. Der bürokratische Gettoapparat nahm die Kinder wieder in seine Obhut, und das Mädchen aus dem Brunnen bekam einen neuen Satz Brot- und Lebensmittelkarten.
Auch Deborah Żurawska, die Rosa von allen Kindern vielleicht am nächsten gestanden hatte, wäre ein Lehrlingsplatz in der Franciszkańska sicher gewesen, hätte sie sich nach dem Besuch des Ältesten im Grünen |414| Haus und dem, was mit Mirjam geschehen war, nicht geweigert, sich mit irgendetwas zu befassen, was mit dem Präses des Gettos zu tun hatte. Über ihr jetziges Leben wusste Rosa nicht mehr als das, was in den Adoptionspapieren in Fräuleins Wołks Büro stand.
Herrn PLOT, Maciej, FRANZSTR. 133
In Beantwortung Ihres Gesuchs vom 24. 9. 1942 wird Ihnen hiermit das Kind ŻURAWSKA , Deborah im Alter von 15 Jahren zur Aufnahme in Ihre Familie zugeteilt.
Litzmannstadt Getto, den 25. 9. 42 –
Franzstraße/Franciszkańska 133 erwies sich als ein niedriges verfallenes Holzgebäude an einem seichten Graben, in dem Kot und Unrat schwammen. Eine Tür, jedenfalls zur Straße, gab es nicht, und das einzige Fenster war vor langer Zeit mit Brettern und Mörtel verbarrikadiert worden. Als Rosa versuchte, über den stinkenden Graben auf den Hinterhof des Hauses zu gelangen, wurde sie von einer Handvoll Männer empfangen, die lautstark und unter heftigen Gebärden beteuerten, dass hier keine Deborah Żurawska wohnte, auch kein Maciej Plot, egal, was ihre Dokumente darüber aussagten.
Als Rosa Smoleńska zum Meldeamt ging, erfuhr sie von einem müden Büroangestellten, dass es zwar eine Person namens Maciej Plot im Getto gegeben habe, doch dass sein Name nunmehr aus dem Register gestrichen sei. Maciej Plot sei beim Sägewerk in der Drukarska beschäftigt gewesen. Im Januar 1942 sei er von der Aussiedlungskommission auf die Liste der »im Getto unerwünschten Individuen« gesetzt und im Februar deportiert worden. Jemand habe ihn beschuldigt, Brennholzabfall vom Holzplatz des Sägewerks gestohlen zu haben. Die Beschuldigung sei möglicherweise richtig, möglicherweise sei sie auch erfunden, weil ein anderer seine Haut habe retten wollen. Das sei schließlich in dem Winter gewesen, als es im Getto derart kalt gewesen sei, dass jeder, der eine Chance dazu gesehen habe, gestohlen hätte, sagte der Angestellte; und diejenigen, die aus irgendeinem Grund keine Möglichkeit zum Stehlen gehabt hätten, seien stattdessen erfroren, bevor sie überhaupt zu den wartenden Zügen nach Marysin gelangt seien.
|415| Doch wenn Maciej Plot deportiert oder tot war, wer hatte dann die Adoptionspapiere in seinem Namen ausgefüllt
?
Und wo und bei
wem
befand sich also Fräulein Żurawska?
Was Rosa noch nicht wusste, war, dass es zwei Arten für einen Juden gab, das Getto zu verlassen. Entweder nahm man den »inneren« oder den »äußeren« Weg. In beiden Fällen waren die zurückbleibenden Angehörigen gezwungen, Arbeits- und Lebensmittelkarten abzugeben, die dann von den entsprechenden Ämtern durch den Stempel TOT oder AUSGESIEDELT entwertet wurden – je nachdem, welcher Weg gewählt worden war.
Die Abstempelung der Arbeitskarten indes war nicht gleichbedeutend damit, dass deren ehemalige Besitzer aus dem Kreislauf verschwanden. Es gab gerissene Leute, die übriggebliebene Lebensmittelkarten aufkauften oder die Angestellten beim Zentralen Arbeitsamt bestachen, damit sie keinen Stempel auf die Ausweispapiere der Deportierten setzten. Sobald eine neue Ration angekündigt wurde, erschienen sie mit den Arbeitskarten der Toten und holten ab, was auf den Talons noch übrig war. Brot, Roggenflocken, Zucker. Da es um so viele ging, die fortzogen, Zehntausende von Männern und Frauen im Lauf von nur wenigen
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