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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Monaten, waren es ansehnliche Lebensmittelmengen, die später auf dem Schwarzmarkt landeten, wo sie von jenen erstanden werden konnten, die
gelt genug
besaßen – das heißt, die durch eine andere Art von Geschäften dazu gekommen waren.
    Einer von denen, die auf diese Weise die Armee der Toten in Marsch setzten, war ein im Getto berüchtigter Dieb und Betrüger mit Namen
Mogn
– Bauch. Dieser war jedoch noch gerissener als die anderen. Mit den Arbeits- und Lebensmittelkarten der Toten ging er zu den Ressortleitern des Gettos und überredete sie, ihre früheren Arbeitskräfte erneut einzustellen. Somit mussten sie zwar an bereits deportierte Leute Lohn auszahlen, doch die Ausgaben, so erklärte Bauch rasch, würde er selbst tragen. Das Wichtige war schließlich, dass die Toten somit weiter quittierten und ihre Lebensmittelkarten erneuert würden, im Prinzip bis in alle Ewigkeit.
    Ein Imperium, gebaut auf nichts, ein Schattenimperium; doch der Mann war reich:
    |416| Wenn er Gäste empfing, saß er in einem zwei Meter hohen Lehnstuhl, Hinterteil und Rücken an weiche Seidenkissen gelehnt, und der gewaltige Bauch hing schlaff, aber mächtig zwischen zwei fetten Unterarmen herunter. Ein guter, dienstbarer Jude, der den Sabbat heilig hielt, allen rituellen Geboten folgte und meinte, sich sogar leisten zu können, koscher zu leben. Obendrein übte er Wohltätigkeit. Um seine Gottesfürchtigkeit und seinen Wohltätigkeitseifer zu beweisen, beschloss er, um das Sorgerecht für einige der armen elternlosen Kinder anzusuchen, die nach der
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-Aktion ihre
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hatten verlassen müssen und die das Büro Wołkowna nun weggab. Eine Reihe seiner verdienstvollsten Toten – darunter der ehemalige Sägewerksarbeiter Maciej Plot – unterschrieben die Antragsformulare, und diese waren allesamt so korrekt ausgefüllt, dass nicht einmal Fräulein Wołk und ihre Kollegen vom Adoptionskomitee etwas daran auszusetzen hatten.
    So lief es ab, als auch Fräulein Deborah Żurawska im Reich der Toten landete, obgleich sie sich nach wie vor unter den Lebenden befand.
    Arbeits- und Lebensmittelkarten musste sie natürlich als Erstes abgeben, als sie in das Haus von Bauch kam. Gegen einen bescheidenen Anteil ihrer eigenen Ration scheuerte sie die Fußböden in dem weitläufigen Holzhaus an der Franciszkańska oder bediente eine der vielen »Frauen«, die Bauch sich im Laufe der Jahre zulegte. Da sie sich ihr Aussehen noch immer bewahrt hatte, musste sie hin und wieder in einem der »Erholungsheime« Dienst tun, die Herr Gertler vom Ältesten übernommen hatte und die Bauch jetzt mit Toten bevölkerte, um den erschöpften Polizisten, die dorthin zur Erholung kamen, etwas bieten zu können. In einem der Heime stand ein Klavier, und da es hieß, dass Deborah Żurawska früher Klavier gespielt habe, musste sie Bauchs Gäste auch mit Musik unterhalten.
    Rosa Smoleńska hatte sich erneut beim Meldeamt erkundigt und dort erfahren, dass Bauch für Deborah in der Hut- und Mützenfabrik an der Brzezińska vorübergehend eine Arbeit besorgt hatte. Dort wurden Ohrenschützer für das deutsche Heer gefertigt. Tagtäglich wartete Rosa vor den Toren in der Hoffnung, ihren früheren Schützling zumindest flüchtig zu Gesicht zu bekommen. Aus Sympathie informierte am Ende eine der dort Angestellten die geduldig Wartende, dass Deborah |417| immer einen anderen Ausgang aus der Werkstatt nehme und dass sie sie, falls sie Deborah suchen sollte, dort fände. Rosa begab sich also zur Rückseite der Fabrik, an der sich eine kleine Laderampe befand, und dort sah sie am nächsten Abend nach Ende der Schicht Deborah zusammen mit einem Grüppchen jüngerer Mädchen herauskommen. Unterhalb der Laderampe warteten, wie eine Art Eskorte, dieselben zwei Männer, auf die sie früher bereits vor dem Holzhaus in der Franciszkańska gestoßen war.
    Deborah ist eine andere, dennoch ist sie sie selbst.
    Abgemagert, mit aufgedunsenem Bauch wie alle anderen Hungerkinder, und dünn im Gesicht wie ein Tier. Sie bewegt sich in einem seltsamen, krabbenähnlichen Gang, eine Schulter zum Nacken hochgezogen. Rosa erinnert sich, dass das Mädchen genauso gegangen ist, wenn sie gemeinsam Wasser vom Brunnen holten, damals versuchte sie jedoch, mit ihrem Körper das Gewicht des vollen Wassereimers auszugleichen, den sie beide zwischen sich trugen; an eiskalten Herbst- und Wintermorgen, an denen die dunkle Erde geformt war wie eine Schale aus zwei gewölbten Händen, den langsam hell

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