Die Elenden von Lódz
werdenden Himmel zwischen sich. Deborah hat von all dem erzählt, was sie nach dem Krieg tun würde: sich beim Musikkonservatorium in Warschau bewerben, vielleicht London oder Paris besuchen; und bei jeder dieser vertraulichen Auskünfte wechselte sie den Griff um den Eimerhenkel. Deborah geht jetzt auf die gleiche Weise – doch ohne Eimer. An den Füßen hat sie ein Paar
trepki
, deren Sohlen derart abgelaufen sind, dass sie ein Bein anheben muss, wenn sie sich dreht, oder
hinkt
sie etwa?
Rosa sieht jetzt. Sie müssen sie geschlagen haben.
Sie läuft ihr nach:
Ich habe dir eine Arbeit besorgt
, sagt sie oder ruft es vielmehr: da Deborah Żurawska alles tut, um ihren schweren, verdrehten Körper hinter den anderen Arbeiterinnen herzuschleppen, die bereits vorausgeeilt sind.
In der Packhalle von Tusks Porzellanfabrik.
Du sollst Sicherungen einpacken. Dort in der Packhalle
gibt es genug Arbeit!
Mehr als genug!
|418| Deborah aber dreht sich nicht um.
Stattdessen sieht sich Rosa von Bauchs beiden Wachtposten umstellt. Die Mützenschirme tief in die Stirn gezogen, lächeln sie mit unbewegten Gesichtern. Auch als sie Rosa um die Taille fassen und zu Boden werfen, lächeln sie.
Die Mädchen haben jetzt die Franciszkańska erreicht, und dort draußen wartet Bauch. Er ist sogar noch kolossaler, als man sagt. So breit um den Leib, dass er nur vorwärtskommt, wenn andere ihn stützen. Zwei jüngere Frauen und ein Mann, der wie die jüngere Version Bauchs wirkt – der Sohn (falls es sein Sohn ist) hat sogar dieselbe phrygische Mütze auf dem Kopf wie der Vater. Zusammen schlurft oder schlappt der ganze Haufen durch den ausgetrockneten Schlamm. Der Bauch, von dem der Mann seinen Spitznamen hat, hängt ihm wie ein schlaffer, schlackernder Sack zwischen den Schenkeln. Eigentlich sollte man glauben, er würde all das Angefressene stolz vor sich hertragen, doch sein Bauch hängt leer, vielleicht ist das die Erklärung für seinen Zorn. Er hat bereits zu reden begonnen, bevor sie ihn noch erreicht haben. Er weiß, wer sie sei, sagt er. Sie arbeite im Sekretariat Wołkowna, stimmt doch? »Parasiten«, sagt er. »Genau das sind alle, die ihren Lohn dafür bekommen, dass sie sich an rechtschaffenen Menschen vergreifen, denn ihr verehrter Präses hat ja nur Augen für die Allerkleinsten, oder etwa nicht? Für die
Kindchen
, denen gibt er Apfelsinen und
Schokolade
, während wir erwachsenen
fähigen
Männer, die ihre Arbeit machen und ihre Familien versorgen, was bekommen wir, ja, zum Dank schickt er uns solche auf den Hals wie dieses Fräulein Wołk, und jetzt Sie –
Smoleńska!
–, das ist ja noch nicht mal ein richtiger jüdischer Name!«
Die ganze Zeit, während Bauch seine Verachtung hervorblafft, hört Rosa Smoleńska vor ihrem inneren Ohr die Alarmglocke schrillen, genau wie damals, als der Älteste sich mit Mirjam eingeschlossen hatte und der Klavierstimmer die Leiter hochgeklettert war und die Stimmgabel an die Flurklingel hielt. Und genau wie damals ist ihr, als verdränge das Schrillen alles, was zuvor Raum und Licht um sie gewesen ist. Alles verschwindet oder löst sich auf in diesem entsetzlichen Geräusch, das jeden daran hindert, zu denken oder zu atmen oder überhaupt etwas zu sagen oder zu tun.
|419| Und Rosa sieht, dass Deborahs einst schmale Klavierfinger ruiniert, entzündet und wundrot sind, so als würden sie in Lösungsmittel getaucht; sie stecken oder sind vielmehr eingewickelt in ein Paar Fingerhandschuhe, die beinahe nur aus Fetzen bestehen. Unwillkürlich fasst Rosa Deborah bei der Hand, und Deborah schreit vor Schmerz und versucht sich ihr zu entziehen, und jemand (ist es wieder Bauch?) ergreift mitten in dem Schrillen erneut das Wort:
»Wer sind Sie eigentlich, Fräulein Smoleńska?« Und Rosa antwortet: »Ich bin die Mutter des Mädchens.« Im selben Augenblick sagt Deborah: »Ich habe keine Mutter, habe nie eine gehabt.« Und Bauch: »Wollt ihr nun endlich dafür sorgen, dass diese Frau von hier verschwindet.«
*
Die Sonderabteilung des Gettos hatte ihr Hauptquartier auf der anderen Seite des Bałucki Rynek, auf dem Hinterhof desselben Hauses an der Ecke Limanowskiego, Zgierska, das auch das Gestapobüro und die OD-Wache des ersten Bezirks beherbergte. Besucher der Sonder mussten sich an den Schlagbäumen zunächst bei dem deutschen Posten anmelden, und wenn der an den Dokumenten nichts auszusetzen hatte, durfte man an ihm vorbei durch ein kleines Tor links vom Gestapogebäude
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