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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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eintreten.
    Hinter den vergitterten Fenstern brannte kein Licht, doch ein Stück entfernt stand ein Grüppchen Männer und wärmte sich an einem Brennofen, den man auf den Hof hinausgestellt hatte: eine große, weitbauchige, total verrußte Blechtonne, aus der dicke Wolken schwarzen, stickigen Qualms schlugen. Es war, als wäre die ganze Luft hier draußen voll von schwachem Rauchnebel, der Körper und Gesichter blass und undeutlich erscheinen ließ.
    Samstag grüßte nicht, als sie näher kam, sondern wandte sich leicht grinsend ab – so als hätte sie ihn bei etwas Schändlichem ertappt. Um den Oberarm trug er die mit dem Davidstern versehene Armbinde des Kommandos. Die dazugehörige Schirmmütze hatte er zu den anderen aufs Fensterbrett gelegt, Rosa aber sah den deutlichen Abdruck des Schweißbandes auf seiner Stirn, ein schmaler Strich, der im Widerschein |420| des Feuers leuchtete wie eine entzündete Wunde. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, war sein Lächeln: die Reihe gleichmäßiger, scharfer Zähne, die, wenn er den Mund verzog, glänzend und speichelnass hervortraten.
    Bist du jetzt seine Kokotte?
, sagte er nur und dann auf Polnisch, damit auch die anderen es verstanden:
Czy jesteś jego kochanką?
    Bei dem Wort
Kokotte
scharten sich die anderen Männer näher um die Feuertonne und bedachten Rosa mit breitem Grinsen und schamlosen Blicken. Der Rauch aus dem brennenden Fass ließ ihre Augen tränen, und plötzlich zitterte sie hilflos am ganzen Körper.
    Samstag kam heran und umfasste sie.
    Ist gut, ist gut
, sagte er.
Weine nicht.
    Die Hände, die sie hielten, waren fest und voller Schwielen. Sie spürte den Geruch sauren Schweißes und des Rauchs aus seinen Kleidern, und auch etwas anderes war da, süß und klebrig, und plötzlich überwältigt kann sie nicht anders und wird weich. Als die alte, wirre, kraftlose Frau, auf die sie nun reduziert ist, erzählt sie von dem Besuch in der Franciszkańska; von Deborah, die herausgekommen ist, nur um sie zurückzuweisen; und von deren Händen, »mit denen sie sich nie beim Konservatorium bewerben könnte« (genau so drückt sie sich aus); und von dem widerwärtigen Kerl, der nicht ohne Hilfe laufen kann und dessen ehemals praller Bauch ihm nun wie ein schlaffer Hautsack zwischen den Beinen hängt. Sie weiß nicht, ob Samstag zuhört oder nicht. Vielleicht tut er es. Als Bauchs Name fällt, erlischt indes das Grinsen der anderen Polizisten. Bauch ist ein mächtiger Mann, von dem sich viele der Sonder haben bestechen lassen. Sie sieht, wie sie ihr, plötzlich gleichgültig, den Rücken zuwenden.
    Samstag aber tröstet sie weiter – immer mechanischer und beharrlicher:
    Nie płacz, kochana; nie płacz …
    Die Rollen sind vertauscht. Völlig undenkbar, dass es derselbe Körper ist, den sie in der Küche des Grünen Hauses einst aus Chaja Meyers Badetonne hob: der magere Halbwüchsige, der sich zu bedecken suchte, als der derbe Handtuchfetzen sein Geschlechtsteil erreichte. Sie denkt an die Brunnenkinder. Wie lange können sie dort unten in dem toten |421| kalten Wasser stehen, ohne dass sich etwas in ihnen unwiderruflich ändert, so dass sie, verwandelt in einen ganz anderen, nach oben kommen?
     
    Zwei Tage nach ihrem Besuch erschien eine Einheit von Gertlers Sonderabteilung in Bauchs überbevölkerter Residenz an der Franciszkańska. Die Angaben über das, was dort tatsächlich geschah, gingen im Nachhinein auseinander. Manche meinten, Samstag habe die Operation persönlich geleitet. Andere glaubten zu wissen, er sei der Sache ferngeblieben und habe sie von seinen Männern selbsttätig erledigen lassen.
    Doch waren sich alle Zeugen einig, dass die Polizisten ohne Vorwarnung ins Haus gestürmt waren. Mit Schlagstöcken trieben sie Frauen und Kinder hinaus und führten bei allen Männern, die sie zu fassen bekamen, Leibesvisitationen durch. Messer in großer Zahl wurden konfisziert, ebenso wie dicke Packen Reichsmark und amerikanische Dollar. In solchen Fällen galt die ungeschriebene Regel, dass sich die diensttuenden Polizisten die beschlagnahmten Geldscheinbündel selbst einstecken konnten. Als Bauch das geschehen sah, erwachte er aus dem Zustand der Lähmung, in den ihn der unerwartete Zugriff versetzt hatte, und den Kopf zwischen die Schultern gezogen ging er auf die Polizisten los.
    Man sagte,
manche
sagten, der mächtige Wanst dieses Mannes sei nur ein gewöhnliches Ödem. Dass er wie alle anderen an Hunger litt. Dennoch verfügte er über eine

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