Die Elenden von Lódz
Bauchgefieder drückten, und warf ihn dann Frau Koszmar zu, die aus dem Zimmer, in dem Helena lag, aufgetaucht war. Frau Koszmar hielt die Kehrschaufel noch immer in Bereitschaft:
Es kommen noch mehr Bittsteller, Frau Rumkowska! Was soll ich tun?
Regina gab keine Antwort. Sie packte den Jungen am Arm und |443| scheuchte ihn in das Zimmer, wohin der Präses mit ihm zu gehen pflegte und wo er seine kleine Kiste mit all den widerwärtigen Bildern aufbewahrte. Sorgfältig schloss sie die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche ihres Kleides. Als sie wieder auf den Korridor trat, stand Chaim dort im Flur, kreidebleich im Gesicht; hinter seinem Rücken Abramowicz und der Rest des Stabes. Abramowicz musste das übernehmen, was Chaim mit aufgesperrtem Mund offenbar versuchte, doch nicht zu sagen vermochte:
Sie haben Gertler verhaftet; möge der Gott Israels sich unser erbarmen –
Sie haben Gertler verhaftet!
Sie hatten auch Herrn Tausendgelds Leiche mitgebracht; und Doktor Garfinkel hatte umgehend die Vorhänge zurückgeschlagen, um Prinzessin Helena, die sich die Seele aus dem Leib schrie, erneut eine Dosis Morphium zu spritzen. Regina aber dachte nur an Gertler. Sie saß mit ihrem Koffer im Flur und wartete auf den Mann, der nicht mehr zurückkehren würde, der indes der Einzige gewesen war, der sie mit ihrem toten Bruder hätte vereinen können.
In seinem Büro saß der Älteste und weinte:
Er war wie ein Sohn für mich, kam einem richtigen Sohn am nächsten, so wie ich ihn gern gehabt hätte …
Und in seinem Zimmer saß der Junge und lachte zwischen all den grotesken Bildern, die er sich von toten und verstümmelten Vögeln gezeichnet hatte.
|444| Rede von Hans Biebow vor Fabrikleitern und Verwaltungschefs des Gettos, gehalten im Kulturhaus am 7. Dezember 1943
(Rekonstruktion): 13
Funktionäre, Fabrikleiter, Arbeiter des Gettos
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(Herr Auerbach! Bitte, setzten Sie sich doch.)
Schon seit längerer Zeit hatte ich die Absicht, zu Ihnen zu sprechen, doch gewisse Schwierigkeiten haben das bisher verhindert. Ich werde langsam und deutlich sprechen, damit diejenigen, die der deutschen Sprache nicht vollkommen mächtig sind, mir folgen können bzw. sich bei denen, die die deutsche Sprache beherrschen, Erklärungen einholen können.
Mir ist zu Ohren gekommen, dass im Getto Unruhe entstanden ist. Diese Unruhe beruht in erster Linie auf gewissen Unregelmäßigkeiten, die es bei der Lebensmittelverteilung gegeben hat. Es ist selbstverständlich, dass in erster Linie die Ernährung des deutschen Volkes gesichert wird, dann die des übrigen Europa und zuletzt die der Juden.
Seit ich vor dreieinhalb Jahren die Gettoverwaltung übernahm, ist es eine meiner Hauptaufgaben gewesen, für die Ernährung des Gettos zu sorgen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, welch enormer
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Anstrengungen es bedurft hat, dem Getto täglich Arbeitsaufträge zu beschaffen. Nur durch diese Arbeit ließen sich die weiteren Lebensmitteltransporte ins Getto sichern.
Bereitwillig möchte ich eingestehen, dass mehrere der Verteilungsformen, die von meinen jüdischen Beauftragten eingeführt wurden, unbeabsichtigt jenen, die bereits über Nahrung verfügten, Nutzen brachten, und zwar auf Kosten jener, die nichts hatten. Es hat widerwärtige Fälle von Missbrauch gegeben, bei denen sich Personen gierig an der begrenzten Menge vorhandener Lebensmittel bedient haben oder sie im schlimmsten Fall weiterverkaufen ließen. Mit dem Ziel, diesen kriminellen Tätigkeiten ein für alle Mal ein Ende zu setzen, habe ich das bisher geltende Talonsystem für ungültig erklärt und ein einziges System zur Verteilung von Zusatzrationen eingeführt. Von jetzt an werden diejenigen, die mindestens 55 Stunden pro Woche arbeiten, auf ihrer Arbeitskarte den Stempel
L = Langarbeiter
tragen, und hier und jetzt gebe ich kund, dass es die Pflicht eines jeden Ressortleiters ist, für die Befolgung der neuen Regeln zu sorgen, und ich versichere Ihnen, dass jeder Versuch, mit diesen Bescheinigungen falsches Spiel zu treiben oder sie im Namen von Personen auszustellen, die sich nicht mehr im Getto aufhalten, einen solchen Leiter etwas erleben lassen wird, woran er nicht im Traume denkt: Er wird nämlich von der Bühne des Lebens abtreten müssen.
Das gilt für die Ressortleiter, aber das gilt auch für jeden Einzelnen in den beschlussfassenden Instanzen, der über die Prüfungen oder die weitere Gültigkeit aller
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