Die Elenden von Lódz
Eisenringe; von Gussformen abgerissene Holzteile, auf der Innenseite noch vom Zement gesprenkelt. Der Schnee fegte fast horizontal zum Boden entlang, und auf einmal hörte man überall Schreien und Johlen, vor allem aber war es der Älteste, |486| der mit harter schriller, fast quiekender Stimme schrie, wie ein kleines Tier, das jemand gerade unabsichtlich zu Tode quetscht.
Genau da geschah es: Ein gewaltsamer Schlag beförderte Adam zu Boden.
Er sah nicht, woher oder von wem der Schlag kam, krümmte sich nur um den heftigen Schmerz und rutschte mit dem Arm voran hilflos durch den schlammigen Matsch. Er fühlte etwas Nasses aus den Hosenbeinen laufen und dachte noch,
wenn ich nur nicht verblute
, als ein Tritt aus demselben Nichts ihn direkt in die Seite traf. Zwei starke Hände packten ihn unter den Armen, und einen Moment lang ließ sich der durch den Schnee rinnende Schlamm nicht von den Augen unterscheiden, die direkt in die seinen starrten; darunter eine Reihe weißer, speichelglänzender Zähne in einem Mund, weit offen um die Stimme, die schrie und schrie:
Du
SCHOJTE
– was hast du geglaubt, wie lange du mir entkommen würdest?
|487| Mehreren hochgestellten Personen zufolge, die Zeuge des Vorfalls waren, soll der Präses während einer Inspektion in Radogoszcz aufgrund »des schlechten Wetters« ausgeglitten und mit dem Kopf auf einem Zementtrog aufgeschlagen sein, weshalb er sich vorübergehend in medizinische Betreuung habe begeben müssen. Wieder andere behaupteten, Biebow habe sich des kranken Judenältesten erbarmt und dafür gesorgt, dass er in einem »arischen Krankenhaus« im Inneren von Litzmannstadt aufgenommen wurde.
Nichts von alledem ist wahr.
Es ist nicht wahr, dass der Präses ausgeglitten und auch nicht, dass er außerhalb des Gettos ärztliche Hilfe gesucht oder bekommen hat. Er lag in der Karolina Miarki in Marysin, in der Kammer der Sommerresidenz, die er gemeinsam mit seinem Bruder bewohnte, um den Kopf einen blutigen Verband, und träumte, es wäre Frühling und das Wasser ströme und steige, wie es das um diese Jahreszeit in Russland stets getan hatte, und um ihn herum standen seine Kinder im Wasser und sahen zu, wie er ertrank. Da kam sein junger Retter auf ihn zugewatet, hob ihn heraus und trug ihn auf seinen Armen entschlossen zurück ans Ufer.
Ältester:
Wer seid Ihr?
Samstag:
Ich bin Werner Samstag, Leiter der Sonderabteilung, VI. Revier. Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, dass die Befreiung nahe ist. Ich bin auch gekommen, um zu sagen, dass ich Euch soeben das Leben gerettet habe.
Ältester:
Für diese Kraftprobe bin ich Euch natürlich ewig dankbar!
Samstag: Tjjjj, mein Herr
, wisst Ihr, dass es wahr ist, was man vom Russen sagt? Ich habe gestern einen gesehen. Er stand in der Schlange vor der Verteilungsstelle, drehte sich um und sagte zu mir –
Ne bojsja, osvobozdenieje
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blizko
… Hab keine Angst, die Befreiung ist nahe! (So sagte er. Mit genau diesen Worten.)
Ältester:
Würde ich zu diesen ewigen Gerüchten Stellung nehmen, brächte ich nie etwas zustande. Immer diese Rücksichtsnahme!
Samstag: No, to dobrze
– jetzt klingt Ihr endlich wieder wie Ihr selbst –
Balejdik nischt dem ojberschtn er wet dir schlogn zu der erd!
Ältester:
Wer bist du?
Samstag:
Wer ich bin? –
Ich bin nicht du! Doch der im Getto, dem du am meisten gleichst!
Ältester:
Das klingt fast wie ein Spruch! Habe ich den erfunden …?
Samstag
:
Euren Anblick ertragen sie jedenfalls nicht mehr.
Ojf mit den altn
, sagen sie. Ihr fahrt in Eurem flotten Wagen vorbei und
Euer eigenes Volk
wendet Euch den Rücken zu und gibt vor, mit etwas anderem beschäftigt
zu sein,
nur um Euch nicht sehen zu müssen. In Wahrheit hat sich das gesamte Getto gegen Euch verschworen. Nur Ihr allein seht das nicht.
Ältester:
Was haben die Leute noch über mich zu sagen?
Samstag:
Die Leute sagen, Ihr seid deren einziger Schutz gegen die Finsternis –
Jest szczęściem w nieszczęściu.
Ältester:
Das stimmt. Das bin ich.
Samstag:
Die Leute sagen, Ihr hättet die Kinder, die Kranken und die Alten ausgeliefert –
Sie sagen, die Wehrlosen, die ließet Ihr zuerst opfern –
Sie sagen, die am durstigsten waren, die ließet Ihr vor Durst sterben!
Ältester:
Bist du vielleicht eins von ihnen?
Bist du ein Präseskind …?
Samstag:
Echt oder unecht?
Freund oder Feind?
Samstag oder Sonntag? Ich bin der
Sonstwastag
– ein sonniges – ein glückliches
Kind!
Liste. Das ist
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