Die Elenden von Lódz
kamen, aus der Situation Nutzen ziehen und sich den Anschein geben, »energisch zu agieren«, oder sollten sie es den Demonstranten gleichtun und möglichst schnell die Flucht ergreifen?
Die meisten entschlossen sich zu Letzterem, kamen allerdings, wie auch die Demonstranten, nicht weit, bevor ein Kommando deutscher Sicherheitskräfte alle Ausfahrtswege mit Einsatzwagen und Geländewagen blockierte. Von den Fahrzeugen wurde das Feuer eröffnet, um die Fliehenden zu verwirren, die nicht wussten wohin, und in der nächsten Sekunde kamen selbst aus den kleinsten Gassen und Winkeln Uniformierte angestürmt. In wenigen Minuten war die gesamte Łagiewnicka leergefegt, und nur eine Handvoll Leichen blieb zurück, zwischen ihnen eine traurige Ansammlung herausgebrochener Pflastersteine, zurückgelassener Mützen sowie zertrampelter Flugblätter und Banderolen.
In dieser Nacht berief Rumkowski eine Zusammenkunft ein, an der Kommandant Rozenblat, der blinde Arzt Viktor Miller und der Leiter des Meldeamts Henryk Neftalin teilnahmen. Darüber hinaus auch einige der Bezirkskommandanten der Ordnungskräfte, denen Rozenblat besonderes Vertrauen entgegenbrachte.
Der Älteste rief die Versammelten auf, die Situation vernünftig zu überdenken.
Menschen, insbesondere Männer, die eine Familie zu versorgen hatten, gingen nicht einfach auf die Straße, wenn man sie nicht eigens dazu aufforderte. In jedem Wohnviertel gab es Unruhestifter. Und diese Rädelsführer galt es zu finden: Kommunisten, Bundisten und Aktivisten der Linksfalange von Poale Zion: Es gab Unzählige, die im Getto geheime Parteizellen gründeten.
Verräterische
Menschen. Die alles taten, um zu beweisen, dass zwischen den Beauftragten
seiner
Verwaltung und den verhassten Nazis kein Unterschied bestand. Gerüchte würden obendrein geltend machen, dass es auch in seinem Ältestenrat Männer gab, |67| die aus der Situation eigenen Vorteil zu ziehen suchten, Personen, die den Anschlag der Unruhestifter dezent anzuheizen wussten, um die Deutschen zu veranlassen, den gesamten
Beirat
abzusetzen.
Von Rozenblat und Neftalin wollte der Älteste
Namen
geliefert bekommen. Ausgehend von diesen Namenlisten würden Polizeieinheiten, die vom folgenden Tag an dafür abgestellt würden, in den Unterkünften der Verdächtigen zugreifen. Es spielte keine Rolle, ob es sich dabei um Sozialisten, Bundisten oder ganz normale Kriminelle und Unruhestifter handelte. Er habe den Gefängniskommandanten Shlomo Hercberg bereits beauftragt, spezielle Untersuchungszellen für die Verhöre bereitzuhalten. Die Strategie erwies sich als überraschend wirkungsvoll. Von September bis Dezember ereigneten sich keinerlei weitere Zwischenfälle, das Getto blieb ruhig. Dann aber brach der Winter an, und der Winter war der beste Freund seines Feindes.
Des Hungers.
Erneut trieb es die Unzufriedenen auf die Straße, und nun herrschte eine derartige Panik, dass sie vor nichts zurückschreckten, am wenigsten vor ein paar simplen Schlagstockhieben.
*
Es war der erste Gettowinter.
Im Getto hieß es, er wäre so kalt, dass den Menschen selbst der Speichel im Mund gefror. Es kam vor, dass Leute nicht zur Arbeit erschienen, weil sie in der Nacht in ihren Betten erfroren waren.
In der Heizmaterialabteilung organisierte man Arbeitstrupps, die baufällige Häuser abrissen und sich des Holzes annahmen. Auf ausdrücklichen Befehl des Ältesten sollten alle Brennstoffe an Werkstätten und Fabriken sowie an Suppenküchen und Bäckereien gehen, die andernfalls ihre Öfen nicht hätten heizen können. Brennholz zur privaten Konsumtion zuzuteilen war ausgeschlossen. Was selbstverständlich zur Folge hatte, dass der Preis für Heizmaterial auf dem Schwarzmarkt in nur wenigen Tagen um das Zehnfache stieg. Genau hier, im Schleichhandel, landete der größte Teil des zersägten Holzes. Zeitgleich mit der Verschlimmerung der Brennstoffkrise blieben die Mehllieferungen an |68| die Gettobäckereien aus. Als der Älteste die Frage bei den Behörden vorbrachte, erhielt er zur Antwort, dass man aufgrund von Eis und Schnee nicht einmal mit den eigenen Notlieferungen durchkäme. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er die Rationen vorübergehend herabsetzte, doch ließ sich nicht übersehen, dass in den Fabriken erneut Unruhe aufkam.
Tagtäglich derselbe Anblick. Verschneite Straßen, Karren, die sich nicht von der Stelle bewegen ließen, weil Räder und Kufen festgefroren waren. Zumindest vier Männerschultern waren vonnöten,
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