Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
einmal mehr durch die oberste Erdschicht gekommen.
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«, wiederholte der Älteste ungeduldig.
    Herr Morski war jedoch viel zu beschäftigt mit seinen eigenen Schwierigkeiten, um zuzuhören. »Man muss sie wohl hinstellen«, sagte er. »Wenn man die Leichen hinstellt, statt sie übereinanderzuschichten, benötigen sie weniger Platz.«
     
    Jetzt aber hatte der Älteste genug. Er drängte sich im Sekretariat durch das Gewimmel emsig arbeitender Telefonistinnen und Schreibkräfte, riss die Tür nach draußen auf und schrie Kuper zu, sofort den Wagen bereitzustellen. Dann ließ er sich das kurze Stück bis zur Jakuba fahren. Herr Wiśniewski empfing ihn bereits in der Tür und rieb sich die Hände; ob er fror oder nur beflissen war, dem Herrn Präses die Werkstätten so rasch wie möglich vorzuführen, ließ sich nicht recht sagen.
    Die streikenden Uniformnäherinnen saßen noch immer brav an ihren Arbeitstischen und blickten voller Erwartung zum Herrn Präses auf.
     
    Wiśniewski:
Ich habe sie geschlagen.
    Ältester:
Wie bitte?
    Wiśniewski:
Ich habe sie mit dem Stock geschlagen. Also diejenigen, die nicht arbeiten wollten.
    |73|
Ältester:
Aber bester Herr Wiśniewski, ich verstehe nicht, was Sie glauben, sich für Freiheiten herausnehmen zu können. Wenn hier jemand schlägt, dann bin ich das!
     
    Und ob es in diesem Augenblick Dawid Wiśniewskis glühend rote Ohren waren oder das verstohlene Kichern hinter ein paar hastig vor den Mund gedrückten Frauenhänden oder die seltsame Stimmung in dem ausgekühlten Fabriksaal, an dessen hinterer Wand braune Wehrmachtsuniformen in Reih und Glied entlangmarschierten (ein ganzes Heer brauner Schaufensterpuppen, zwar nur Brust und Rumpf, doch allesamt im Gleichschritt!) – plötzlich war es, als überkomme den Alten eine Inspiration, und ehe man sich’s versah, oder noch bevor ihm jemand eine helfende Hand oder den Ellbogen als Stütze reichen konnte, stand der Präses schon oben auf einem der wackligen Arbeitstische und sprach mit erhobener Faust, wie einer der sozialistischen Agitatoren, die er soeben noch verurteilt hatte; und die Rede, die er in diesem Moment hielt, würde später von allen Anwesenden als eine der inspiriertesten bezeichnet werden, die er je gehalten hatte:
     
    Frauen, ihr mögt die Ersten sein, die mich verurteilen – nehmt gern Partei für all jene, die gegen mich agitieren! Doch sagt mir ehrlich: Was würdet ihr von mir halten, wenn ihr wüsstet, dass ich im Getto nur eine kleine Zahl begünstigte und alle anderen zwänge, für einen Sklavenlohn zu arbeiten …!
    Stets habe ich nur das Beste des Gettos vor Augen. Ruhe und Frieden an unseren Arbeitsplätzen sind die einzige Rettung für uns alle …!
    (Schande über diejenigen, die etwas anderes glauben!)
    Wisst ihr nicht, dass es DIE DEUTSCHE KRIEGSMACHT ist, für die ihr und ich und wir alle arbeiten; habt ihr das auch nur einen Moment bedacht? Und, was glaubt ihr, würde geschehen, wenn in diesem Augenblick – genau jetzt, wo ich hier zu euch spreche – deutsche Schupos hereingestürmt kämen, die euch mit Waffengewalt zu einem der Sammelpunkte brächten, um euch im Anschluss deportieren zu lassen?
    Was würdet ihr sagen zu euren armen Eltern, euren Ehegatten, euren Kindern …?
    |74| [Die Frauen duckten sich hinter ihre Arbeitstische wie hinter den Wall eines Schützengrabens.]
    Von heute an herrscht ARBEITSVERBOT in dieser wie auch in allen anderen Werkstätten des Gettos, in denen es zu Hetze und Aufwiegelung kam.
    HERR WIŚNIEWSKI! SIE HABEN UNVERZÜGLICH DAFÜR ZU SORGEN, DASS ALLE ARBEITER DAS GEBÄUDE VERLASSEN. DIE FABRIKTORE SIND ZU VERSIEGELN!
    Von diesem Zeitpunkt an werden keinerlei Rationen mehr ausgegeben. Allen Streikenden werden die Ausweispapiere und Arbeitskarten abgenommen. Erst wenn ihr die Tatsache begriffen habt, dass all das, was den Interessen des Gettos am meisten dient, auch euch am meisten nutzt, seid ihr an euren alten Arbeitsplätzen erneut willkommen!
     
    Sechs Tage hielten die Streikenden aus.
    Am 30. Januar ließ Rumkowski offiziell mitteilen, dass die Fabriktore all denen wieder offen standen, die sich verpflichteten, zu den herrschenden Bedingungen weiterzuarbeiten. Sämtliche Streikenden kehrten daraufhin an ihre Arbeitsplätze zurück, und damit hätte die Geschichte enden können.
    Doch dem war nicht so.
    Zwei Tage, nachdem der Streik abgeblasen worden war, am 1. Februar 1941, nahm Rumkowski Rache. In einer weiteren

Weitere Kostenlose Bücher