Die Elenden von Lódz
Demonstranten wenig. Bald standen sie vor dem Krankenhaus Nr. 1 in der Łagiewnicka, in dem das »private Quartier« des Ältesten lag, schrien, fluchten und skandierten Parolen. Sie schickten auch einen Boten aus, der verlangte, der Präses solle herauskommen und zu ihnen »sprechen«.
Unten im Spital stand der blinde Doktor Viktor Miller und versuchte weitere Ärzte telefonisch zum Dienst zu rufen. Doktor Miller hatte als Feldscher am letzten Krieg der Deutschen teilgenommen, und als er nach einer französischen Artillerieattacke helfen wollte, einen gefallenen Soldaten fortzutragen, war ein Munitionsdepot in der Nähe in die Luft geflogen. Die Explosion hatte sein rechtes Bein und Teile seines rechten Armes zerfetzt, und Splitter waren durch beide Augen ins Stirnbein gedrungen und hatten ihn für immer blind gemacht. Für diesen Einsatz hatten ihm die Deutschen das Eiserne Kreuz »für Mut und Tapferkeit im Feld« verliehen. Doch es waren seine Verdienste bei den Hungerkrawallen im Getto, die ihm ein für alle Mal die ehrende Bezeichnung
der Gerechte
einbrachten. Das Wundgewebe unter seiner schwarzen Brille schweißnass und lediglich seinen Stock und ein paar verwirrte Krankenschwestern zur Hilfe, rannte er hin und her, um die hitzigsten Demonstranten zu beruhigen, während er den Verletzten zugleich auf die Tragen half, damit man sie in die zu provisorischen Behandlungszimmern umgestalteten Warteräume bringen konnte. Noch mussten die meisten Verletzten die Schuld für das Geschehene bei sich selbst suchen: Man hatte sie in der Menge niedergetrampelt, oder sie waren vor Erschöpfung oder wegen Flüssigkeitsmangel zusammengebrochen. Sie hatten schließlich nichts zu essen gehabt, wie sollten sie dann imstande sein zu demonstrieren? Vor dem Wartesaal lag ein Mann, der heftig aus einer Kopfwunde blutete, der Grund waren Pflastersteine, die eigentlich für die beiden Fenster des Ältesten im zweiten Stock bestimmt gewesen waren.
|65| Jetzt war klar, dass sich der Aufstand auf das ganze Getto ausgebreitet hatte.
In der Zwischenzeit waren Rumkowskis Bruder Józef und dessen Frau Helena in den vom Ältesten bewohnten Räumen des Krankenhausverwaltungstrakts eingetroffen. Von den Fenstern im zweiten Obergeschoss sahen sie Rozenblats Männer mit ihren harmlosen Schlagstöcken Hiebe austeilen, bei dem lächerlichen Versuch, in die Menge vorzudringen. Es kam zu Schlägereien in isolierten Haufen, da die Männer sich weigerten, den Stockhieben nachzugeben, und mit Steinen und Holzknüppeln zur Gegenwehr übergingen.
Prinzessin Helena war zu diesem Zeitpunkt ungemein aufgewühlt und erklärte allen Anwesenden, es sei genau wie bei der Revolution in Paris, als das Volk »den Verstand verloren« und sich gegen die eigenen Leute gewandt hatte. Sie wankte ununterbrochen zwischen Fenster und Schreibtisch hin und her, stieß, mit den Armen fuchtelnd, kurze Schreie aus. Der Anblick der tumultartigen Szenen vor ihrem Fenster wurde am Ende zu viel für sie:
Sie werden uns alle töten
, schrie sie mit heiserer Stimme und inszenierte einen ihrer heftigeren Ohnmachtsanfälle.
Wie immer, wenn Prinzessin Helena irgendeine
malaise
zustieß, trat Józef Rumkowski steif auf seinen Bruder zu. Und stand dann einfach nur da: direkt vor ihm, den Blick anklagend erhoben. So hatte er sich von klein auf verhalten.
Nun, und was gedenkst du dagegen zu tun?
, sagte er.
Und Rumkowski? Wie stets in diesen Fällen fühlte er, wie ungezügelter Hass das Gefühl von Unzulänglichkeit und Scham verwässerte: wegen der rigiden Vorwürfe des Bruders, wegen dessen Unterwürfigkeit gegenüber einer Gattin, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte, die Aufmerksamkeit von der entstandenen Situation auf ihr eigenes unendliches Selbstmitleid zu lenken. Unter normalen Umständen wäre sein Zorn in diesem Augenblick übergekocht. Doch gegen Józef halfen keine Wutausbrüche. Der Bruder starrte ihn nur weiter an. Es war nicht möglich, diesem unnachgiebigen Blick zu entgehen oder ihn zu übergehen.
Zum Glück brauchte niemand von ihnen etwas zu tun.
Die Deutschen waren bereits im Anmarsch.
|66| Von der Zgierska her hörte man den Lärm der Einsatzfahrzeuge – und deutlich sichtbare Unruhe brach nicht nur in den Reihen der Demonstranten, sondern auch unter den von Rozenblat einbestellten Polizisten aus, von denen die meisten bereits am Boden lagen oder Schutz an den Häuserwänden der Spacerowa gesucht hatten. Sollten sie, wenn die Deutschen
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