Die Elenden von Lódz
um die Handkarren aufs Neue in ausgefahrene Spuren zu heben. Und in den Suppenküchen der Zgierska, der Brzezińska, der Młynarska und Drewnowska hockten Männer und Frauen Rücken an Rücken, in Mäntel, Tücher und Decken gehüllt, und schlürften die immer wässrigere Suppe, während dicke Schneewolken durch Straßen und Gassen trieben.
Die Unruhen, die jetzt entstanden, waren von anderer Art.
Diesmal war der Mob in Bewegung. Die Menschen hatten kein erklärtes Ziel, wenn sie sich auf den Straßen sammelten, sondern zogen eilig von Viertel zu Viertel.
Das Gerücht trieb sie umher.
A razie is du, a razie is du!
Überall, wo diese Worte erklangen, machten die Leute kehrt und folgten den Menschenmassen dorthin, wohin die eintreffenden Lebensmittelkonvois nach ihrem Dafürhalten unterwegs waren.
Kaum hatte ein Transport das Tor von Radogoszcz passiert, da wurde er auch schon angegriffen. Man riss den Pferdekutscher zu Boden, fünf, sechs Mann stemmten die Schultern gegen die Fuhre, und unter großem Jubel gelang es ihnen, den Wagen umzukippen. Als die ersten der schwerfällig herbeieilenden Ordnungskräfte an Ort und Stelle ankamen, war jede einzelne der geladenen Kartoffeln oder Kohlrüben verschwunden.
Es ging das Gerücht, dass an einer Adresse in der Brezezińska Brennholz zu holen wäre. Das Holz stammte von einem Bretterschuppen, von dem die Heizmaterialabteilung aus irgendeinem Grund abgesehen hatte, als man die Bestandsaufnahme der Holzreserven im Getto vornahm.
|69| Und sofort war der Mob zur Stelle.
Einer übernahm die Führung, indem er sich aufs Dach des Schuppens heben ließ, während andere mit Äxten und Sägen auf alles losgingen, was sich zerhacken oder niederreißen ließ, und schon bald stürzte das Gebäude in sich zusammen. Von den Männern und Frauen, die sich im Inneren aufhielten, wurde ein Halbdutzend zu Tode getrampelt. Als die Polizei schließlich eintraf, wurde sie von Männern behindert, die sich zur Wehr setzten, um ihren Kameraden die Möglichkeit zu geben, möglichst viel von dem begehrten Holz zu schnappen, bevor sie damit flohen.
In dieser Lage beschloss das Personal der sechs Gettokrankenhäuser, in den Streik zu treten. Dort arbeitete man in drei Schichten – rund um die Uhr, obendrein in Räumen, die so ausgekühlt waren, dass die Chirurgen kaum noch die Messer in den Händen spürten –, um zu versuchen, ausgehungerte Erwachsene und Kinder zu retten, die mit Erfrierungen und gebrochenen oder zerschmetterten Gliedmaßen eingeliefert wurden, weil sie sich vor den Verteilungsstellen des Gettos geprügelt hatten oder niedergetrampelt worden waren. Von den Lebensmittelkonvois, die von Radogoszcz unterwegs waren, gelangte nur ein Bruchteil ans Ziel. Diejenigen, die nicht schon auf dem Weg vom Güterbahnhof überfallen worden waren, wurden bei der Ankunft im Getto angegriffen. Ein paar Männer sprangen über die niedrige Mauer, die das zentrale Gemüsedepot umgab, und obgleich Rozenblat längst Polizisten abkommandiert hatte, die doppelte Schichten ableisteten, um alle Lebensmittellieferungen zu schützen (nunmehr waren jedem Lebensmittelkonvoi zwei und jedem Depot zumindest drei Polizisten zugeteilt), konnten sie den Mob nicht daran hindern, durch die Umzäunung hinein- und wieder hinauszugelangen, und im Laufe von nur wenigen Stunden war das Lager vollständig ausgeräumt.
Das Problem war
der Hunger
.
Egal, welche Maßnahmen der Älteste auch ergriff, um der Gesetzlosigkeit im Getto Herr zu werden, er würde damit nie Erfolg haben, wenn es ihm nicht gelang, den Hunger einzudämmen.
Um seine Kraft und Entschlossenheit zu zeigen, schaffte der Älteste |70| alle Extrazulagen ab und erhöhte die Brotration insgesamt. Alle in Arbeit stehenden Personen sollten, unabhängig von Beruf und Position innerhalb der Gettohierarchie, das Recht auf eine wöchentliche Ration von vierhundert Gramm Brot erhalten.
Die Abschaffung der speziellen Zulagen schien auf den ersten Blick ein kluger Entschluss zu sein. Im Nachhinein sollte er sich jedoch als größter Missgriff des Ältesten herausstellen, ein Fehler, der beinahe zu einer offenen Revolte gegen seine Herrschaft geführt hätte.
Seit das Getto von der Außenwelt abgeriegelt war, hatte man die vorhandenen Lebensmittel nach einem klaren Privilegsystem verteilt.
An erster Stelle rangierten die sogenannten
B-Rationen
:
B
stand für
Beirat
, die zentrale Gettoadministration. B-Rationen gingen an mit besonderen Aufgaben
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