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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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betraute Personen – unterteilt in Klassen von I bis III, je nach ihrer Stellung in der Gettohierarchie: von den Mitgliedern der eigenen Kanzlei des Ältesten bis zu Fabrikleitern und technischen Instruktoren, Juristen, Ärzten und anderen wichtigen Personen.
    Dann gab es die sogenannten
C-Rationen
.
    C
stand für
Ciężko Pracujacy
, diese erhielten Arbeiter mit besonders schwerer körperlicher Tätigkeit. Der Unterschied zur normalen Arbeiterration war nicht hoch; die Schwerstarbeiter erhielten 50 Gramm Brot am Tag mehr als normale Fabrikarbeiter und obendrein vielleicht eine weitere Kelle Suppe. Doch diese Extrazuteilung war symbolisch wichtig, weil sie bewies, dass harte Arbeit sich lohnte.
    Als bekannt wurde, dass man die C-Ration streichen wollte, um eine allgemeine Erhöhung der Brotzuteilung zu finanzieren, beschlossen die Tischler auf der Drukarska und der Urzędnicza, in Streik zu treten. Neben der unveränderten C-Ration verlangten sie eine, wenn auch unbedeutende, Lohnerhöhung.
    Darauf konnte sich der Älteste natürlich keinesfalls einlassen. Wenn die Tischler der Drukarska ihre Extrazulage behielten, würden bald unzählige andere Arbeiter darauf bestehen, dass auch ihre Berufe einen Kostzuschlag erforderten. Er erteilte Rozenblat die Anweisung, seine Kräfte in Bereitschaft zu versetzen. Rozenblat ließ siebzig Mann unter Führung von OD-Kommissar Frenkiel zur Tischlerei in die Drukarska |71| schicken. Einige wenige Arbeiter verließen das Gebäude, als sie sahen, dass es von Polizisten umstellt war, die meisten jedoch verbarrikadierten sich im zweiten Stockwerk und weigerten sich trotz wiederholter Appelle, zunächst von Frenkiel, dann von Fabrikleiter Freund höchstpersönlich, den Ort zu räumen. Als die siebzig Mann starke Polizeieinheit am Ende beschloss, das Obergeschoss zu stürmen, empfing sie ein Hagel von Holzwaren verschiedenster Veredlungsform. Sprossenstühle knallten ihnen auf die Köpfe, dann folgten Regale, Sofabeine und Tischplatten. Die Arme zum Schutz vors Gesicht gehoben, kämpften sich die Polizisten die Treppe empor und versuchten die Streikenden zu überwältigen und einen nach dem anderen nach draußen zu schleppen. Kein Einziger der Arbeiter ergab sich widerstandslos. Ganz im Gegenteil, berichtete Fabrikleiter Freund Rumkowski später erregt am Telefon, man hätte mehrere der übermannten Arbeiter anschließend ins Krankenhaus bringen müssen. Sie waren derart ausgehungert, dass sie vor Erschöpfung zusammenklappten, noch bevor ihnen Kommissar Frenkiels Männer die Handeisen anlegen konnten.
    Kaum hatte Freund aufgelegt, als auch schon Wiśniewski, der Leiter der Uniformschneiderei in der Jakuba 12, anrief und mitteilte, dass man aus Sympathie mit den Tischlern der Drukarska und Urzędnicza auch dort die Arbeit niedergelegt hatte. Wiśniewski war verzweifelt. Seine Schneiderwerkstatt war gerade im Begriff, eine Order von nahezu zehntausend Wehrmachtsuniformen, komplett mit Schulterklappen und Kragenspiegeln, zu Ende zu bringen. Wie würden die Behörden reagieren, wenn sie ihre Uniformen nicht rechtzeitig erhielten? Und kaum hatte Wiśniewski den Hörer aufgelegt, als Estera Daum vom Sekretariat einen Anruf aus Marysin durchstellte. Jetzt war es eine Kompanie Totengräber, die durch den Vorsitzenden der Beerdigungsinnung mitteilen ließ, dass sie nicht die Absicht hätten, weitere Gräber auszuheben, wenn sie ihre zusätzliche Brot- und Suppenration nicht behalten durften. Warum, so lautete ihr Argument, sollten gerade die Totengräber mit minderwertiger Suppe bestraft werden? Zählte ihre Arbeit etwa weniger, war sie von geringerem Wert als die anderer, die bisher die C-Ration erhalten hatten?
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«, sagte Rumkowski lediglich.
    |72| Im Unterschied zu Wiśniewski, der sein Entsetzen mehr oder weniger in den Hörer gejammert hatte, reagierte der Vertreter der Beerdigungsinnung, ein gewisser Herr Morski, mit mehr Humor.
    »Auch die Toten müssen sich jetzt wohl mit dem Anstehen abfinden«, sagte er.
    In Marysin war am selben Morgen eine Temperatur von minus 21 Grad gemessen worden, erklärte Herr Morski; diese Information hatte er von Herrn Józef Feldman erhalten, der schließlich ebenfalls ein geachtetes und vertrauenswürdiges Mitglied seiner Begräbniskolonne war. Zwölf neue Tote waren am Morgen aus der Stadt bei ihnen eingetroffen. Seine
grobers
waren wie gewohnt mit Hacken und Brecheisen auf den Boden losgegangen, indes nicht

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