Die Elenden von Lódz
aus Bremen geklammert |62| an den Judenältesten des Gettos, unwillig zur Salzsäule erstarrt. Rumkowski stand wie üblich da, den Hut in der Hand und den Kopf untertänig gesenkt. Bei Gelegenheiten wie diesen ließ sich Biebow lang und breit über seine Theorie aus, dass ein Hungriger am besten arbeitet. Arbeiter mit vollem Bauch werden träge, sagte er.
Sie sind unfähig, ihr Werkzeug fest anzupacken, sagte er.
Plumpsen auf den Hintern.
Und wenn sie nicht auf den Hintern plumpsen, können sie den Blick doch nicht von der Wanduhr lösen, die ihnen sagt, wann sie sich erheben und ihrem überfütterten Körper Ruhe gönnen können.
Nein, fuhr er im Theoretisieren fort, es gilt, die Schweine so zu halten, dass sie immer ein bisschen haben, doch nie wirklich genug. Wenn sie arbeiten, sollen sie die ganze Zeit das Essen im Kopf haben, und der Gedanke, bald essen zu können, lässt sie etwas mehr arbeiten, sich etwas mehr aufgeben, immer an der Grenze dessen, was sie schaffen können, dennoch aber nicht wirklich dort angekommen;
an der Grenze
, Rumkowski, an der Grenze.
(
Begreifen Sie?
,
s
agte er und schaute den Ältesten mit bittendem Blick an, als wäre er sich dennoch nicht ganz sicher, ob Rumkowski den vollen Inhalt dessen, was er gesagt hatte, verstand.)
*
Es gab eine Schuld. Biebow erinnerte ihn ständig daran. Die äußere Form dieser Schuld war ein Darlehen von zwei Millionen Reichsmark, die Stadtkommissar Leister Rumkowski bewilligt hatte, damit dieser die Mittel besaß, um die Industriezweige des Gettos auszubauen. Das Darlehen sollte jetzt amortisiert und Zinsen sollten bezahlt werden, und die Amortisierung ging in Form von jüdischem Eigentum vonstatten, das konfisziert wurde, und von Waren, die produziert wurden und die Ausfuhrstation am Baluter Ring in nicht abreißen wollendem Strom passierten.
Die Schuld aber hatte auch eine innere Form. Ausgehend von jener wurde bestimmt, was die Arbeit im Getto tatsächlich wert war. Für jeden Gettobewohner war ein Tagessatz festgelegt:
Dreißig Pfennige
, |63| mehr durfte kein Gettobewohner kosten. Biebows Finanzchef Josef Hämmerle hatte diese
Judenration
auf der Grundlage dessen errechnet, was die Lieferung von Lebensmitteln und Heizmaterial ins Getto kostete.
Als zusätzliche Last kamen für jene Familien, in deren Haushalt Kinder oder alte Menschen lebten, noch Ausgaben für Milch hinzu, soweit Milch überhaupt aufzutreiben war, und für Strom und Heizmaterial. Der Älteste ließ einen seiner Mitarbeiter die Sache berechnen. Um das Überleben für ein einziges erwachsenes Individuum im Getto zu garantieren, war eine Lebensmittelration von mindestens einer Mark und fünfzig Pfennigen am Tag vonnöten, also fünfmal so viel wie der von den Behörden festgesetzte Tagessatz.
Der überwiegende Teil der Lieferungen, die im Getto eintrafen, war obendrein von mangelhafter oder direkt schlechter Qualität. Von einer Menge von zehntausend Kilo Kartoffeln, die im August 1940 im Getto ankamen, waren lediglich tausendfünfhundert Kilo zu retten. Der Rest der Ladung war dermaßen verfault, dass er in den Latrinengruben von Marysin vergraben werden musste.
Wie stellt man es an, ein Getto von 160 000 Menschen mit 1500 Kilo Kartoffeln zu ernähren?
Es war nur eine Zeitfrage, bis Hungerkrawalle ausbrechen würden.
Im August 1940 begannen die Tumulte.
Die Demonstranten waren zunächst nicht gewalttätig, aber lautstark. Welle auf Welle armer, in Lumpen gekleideter Juden strömte aus den Gebäuden an der Lutomierska und der Zgierska, und bald konnte man im Getto in keiner anderen Richtung als in der der Marschierenden vorankommen.
Rumkowski war sich sofort bewusst, dass er vor einem schweren Dilemma stand.
Leister hatte ihm schon vom ersten Augenblick an klargemacht, dass, wenn es ihm, Rumkowski, nicht gelänge, im Getto für Ruhe und Ordnung zu sorgen, die Gestapo den gesamten Ältestenrat mit unmittelbarer Wirkung auflösen würde, und sein Traum von der jüdischen Getto-Selbstverwaltung wäre ausgeträumt.
Über eine eigene Polizeitruppe, die er hätte einsetzen können, verfügte |64| er indes nicht. Bewaffnet lediglich mit ihren Fäusten und einem Schlagstock per Mann wagten sich die fünfzig Ordnungskräfte, die Kommandant Rozenblat auf die Beine stellen konnte, nicht einmal in den Zug der Demonstranten hinein. Sie zogen es vor, Absperrungen entlang der Straßen zu errichten und dann rasch wieder zu verschwinden. Doch die Absperrungen kümmerten die
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