Die Elenden von Lódz
Lastwagenreihen, fein säuberlich aufgestellt im Abstand von zwanzig Metern zwischen den Fahrzeugen. Auf halbem Weg zur Residenz des Ältesten haben die Deutschen eine Absperrung errichtet, und daneben steht eine Handvoll untätiger Männer der Sicherheitskräfte und scherzt mit dem Wachtposten.
Einige wenige Nachzügler, einzeln oder in Gruppen, vor allem ältere Männer und Frauen, sind mit ihrem Gepäck unterwegs die Straße hinunter. Sie erscheinen ihr jetzt, da sie nicht mehr im Konvoi marschieren, sehr viel verletzlicher, und die Gestapoleute merken das ebenfalls. Plötzlich sieht man einen der Polizisten einen weiten Sprung nach vorn machen (der lange schwarze Mantel öffnet sich wie ein Schirm über den hohen Stiefeln), und schon hat er einen der Juden mit rasselndem Koppel |561| eingeholt. – Was hat er getan? Hat er zu viel Gepäck bei sich? Geht er zu nahe am Straßenrand? – Alle fünf Polizisten stehen unversehens im Kreis um den Gestürzten. Trotz ihres Grölens und Lachens sind die dumpfen Stöße zu vernehmen, als die Stiefelspitzen den weichen Körper treffen, und auch die verzweifelten Hilferufe des Mannes.
Im selben Augenblick ist ein seltsam pfeifendes Geräusch zu vernehmen, und plötzlich wird ihr alle Luft aus den Lungen gerissen. Sie sieht den Posten an der Straßensperre zwei Schritte vorwärts und mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung machen; das pfeifende Geräusch wächst zu einem Dröhnen an, und unter ihren rennenden Füßen schwankt die Erde, so als stünde sie auf einem schaukelnden Brett.
Sie sieht sich selbst im Straßengraben liegen, direkt auf dem misshandelten Mann; sieht den Rauch der Explosion über die weichen Riemen seines Rucksacks treiben. Im selben Augenblick beugt sich jemand von oben zu ihr hinab, fasst sie unter den Armen und bringt sie wieder auf die Straße zurück. Es ist Samstag. (Sie hätte ihn auch wiedererkannt, wenn er aus ihren tiefsten Träumen erschienen wäre.) Was tut er hier? Mehr zu denken, bleibt keine Zeit.
Lauf
, sagt er nur und zeigt zu den Häusern weiter unten auf der Marysińska.
Irgendwie gelingt es ihr, sich auf den Beinen zu halten. Noch immer ist ihr, als befinde sie sich auf dem Deck eines Schiffes, das unter ihren Füßen unaufhörlich rollt oder kippt. Auch die Gebäude dicht an der Straße scheinen hin und her zu gleiten; einen Augenblick lang werden sie von einer Wolke dicken Qualms verhüllt, im nächsten sind sie erneut deutlich sichtbar. Erst als es ihr gelingt, durch das Tor ins Haus zu gelangen, wird ihr klar, dass sie sich wieder dort befindet, wo sie am Abend zuvor übernachtet hat.
Da waren das Treppenhaus und die Wohnungen bis zum Bersten gefüllt mit fliehenden Menschen. Nun ist keine Seele mehr zu erblicken; nur zurückgelassenes Gepäck: Decken, Matratzen und Kochgefäße. Sie steigt die Treppe hinauf zu dem Zimmer im dritten Stock. Die Fenster der Wohnung stehen weit offen. Als sie hinausschaut, sieht sie die ganze lange Lastwagenreihe, an der sie zuvor vorbeigegangen ist, nun aber begreift sie, dass die Wagen dort nicht stehen, weil sie darauf warten, |562| eine Aktion durchzuführen, sondern dass die Aktion vielmehr
bereits durchgeführt wurde
. Die deutschen Kommandos haben in der Nacht, als sie fort war, das gesamte Gebiet durchkämmt und gesäubert. Deshalb gibt es hier keine Menschen mehr. Und deshalb haben sie eine Straßensperre am Ende der Marysińska errichtet.
Aufs Neue steht Werner Samstag hinter ihr in der Türöffnung.
Mit mitleidigem Blick, so übertrieben und distanziert, dass es fast sarkastisch wirkt, betrachtet er das Blut, das die Vorderseite ihres Kleides bedeckt.
Dann beugt er sich zu ihr hinunter. Einen Moment lang ist sie überzeugt, dass er sie töten will, doch er packt sie nur wieder bei den Armen und wirft sie sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung auf den Rücken. Erst jetzt, als ihr Kopf über seiner Schulter hängt, sieht sie, dass sie die Liste mit den Präseskindern nach wie vor in der Hand hat. Ebenso krampfhaft hält sie mit der anderen Hand das Taschentuch mit den Brotresten umfasst, die sie für den Fall aufgespart hat, dass sie eins der Kinder wiederfindet. So begeben sie sich die übersäten Treppen hinunter und hinaus ins Getto.
Das aber ist nun eine Geisterstadt.
Überall offene Türen, die im Luftzug klappen. Gähnend leere Fenster.
Es ist, als wäre ein starker Wind hindurchgefahren, ein Wind ohne Ausdehnung oder Richtung, ein Wind, der rundum nur Leere
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