Die Elenden von Lódz
schafft, ohne etwas zu berühren.
Obgleich es hell geworden ist, ist der Morgenhimmel gänzlich schwarz –
Sich an Samstags Rücken klammernd, sieht sie am Rand ihres Blickfelds Häuser, Höfe, Zäune und Mauern in gleichmäßigem Rhythmus vorüberflimmern. Sie nehmen einen Schleichweg. Samstag bewegt sich geschmeidig wie ein Tier, läuft zwischen Reihen von Schuppen und Latrinen hindurch, von denen ihr fürchterlicher Gestank entgegenschlägt, der im nächsten Augenblick vom süßlichen Geruch eines noch nicht völlig verblühten Fliederbuschs überlagert wird. Einmal meint sie die stacheldrahtgekrönten Mauern und dahinter den Zellenblock des Zentralgefängnisses zu erkennen. Dann weiß sie plötzlich, wo sie sich befinden. Sie stehen auf dem Hof vor dem Gebäude, das vormals das |563| Getto-Kinderkrankenhaus war, und ein Schild weiter oben auf der verwitterten Hausfassade bestätigt es:
KINDERHOSPITAL DES ÄLTESTEN DER JUDEN
Noch immer sind Spuren der großen Industrieausstellung des Zentralen Arbeitsamtes zu sehen. In der Eingangshalle stehen die Ausstellungsvitrinen nach wie vor auf ihren Kästen oder direkt auf dem Boden; zwischen Glasscherben und herumliegenden Gardinenfetzen türmen sich Plakatreste mit statistischen Kolumnen und Kurven: Nun wirken sie völlig pathetisch, mit deutlich sichtbaren Fußabdrücken auf den sorgsam geordneten Zahlensäulen.
Vom Hinterhaus, einem einfachen Flachbau mit derben Holzscheiben vor den Fenstern, fällt eine ungemauerte Steintreppe anscheinend direkt ins Fundament ab; dort nimmt ein schmaler Kellergang seinen Anfang, der wie ein Tunnel unter das eigentliche Gebäude zu führen scheint. Rosa spürt den modrig riechenden kalten Luftzug von den steinverkleideten Erdwänden und beugt sich instinktiv hinab, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. Samstag aber ist vorsichtig. Als wäre sie nur eine überdimensionale Puppe, lässt er sie auf seinen Arm hinuntergleiten. In der anderen Hand hält er eine breite Bogenlampe. Ohne dass sie es bemerkt hat, muss er einen Schalter bedient haben, denn plötzlich zeichnen sich Wände, Decke und der Boden des Kellergangs in blendend scharfem Licht um sie ab. Farbeimer und Büchsen mit Lösungsmittel in Regalen; Werkzeuge, ausgebreitet und sortiert nach Form und Größe. Mitten im Raum, gleichsam auf der Lauer, stehen die Reste der großen Druckerpresse von Pinkas Szwarc. Wie haben sie es geschafft, dieses gewaltige Ungetüm hier hinunterzuschleppen? Und hinter der Druckerpresse, auf einem Bord unter der niedrigen Decke, liegen alle erdenklichen Musikinstrumente: eine Tuba, eine Posaune und (an Haken, geschraubt an die Bretterleiste) Geigen, die mit ihren Hälsen in Schlingen aus dünnstem Klaviersaitendraht hängen.
Da hat sie aber bereits die Kinder aus dem Grünen Haus erblickt.
Ihre Gesichter, nebeneinander aufgereiht wie Kugeln auf einem Rechenbrett, wirken bleich, geblendet von dem scharfen Licht. Als Erstes |564| sieht sie den faltigen Kopf des Klavierstimmers. Dahinter, wie eine Kopie des Fotos aus der Küche des Grünen Hauses: Nataniel; Kazimir; Estera; Adam.
Alle Kinder von der Liste sind da. Auch Deborah Żurawska.
Rosa sieht das Mädchen hastig aufschauen und den Blick dann gleichsam beschämt wieder senken. Und Rosa will etwas sagen, aber die Worte, nach denen sie sucht, lassen sich nicht länger greifen. Stattdessen schiebt sie sich zwischen niedrigen Regalen, Posaunenrücken und der scharfen Kante einer Schleifbank vorwärts. Das letzte Stück muss sie auf allen vieren kriechen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, während ihr von der Decke loser Sand und Steinchen ins Genick rieseln. Dann ist sie endlich an Ort und Stelle und kann ihr Taschentuch mit den gesparten Brotresten aufwickeln. Reicht Deborah, die zuäußerst sitzt, einen der Ränder; reißt dann mit zittrigen Händen das Übrige in gleich große Happen und verteilt sie nacheinander an die Nächsten in der Reihe – Nataniel, Kazimir, Estera –, noch immer, ohne auch nur ein Wort über die Lippen gebracht zu haben.
Hinter den Kindern verläuft eine niedrige Steinwand, deren vorstehende Steinblöcke wohl ehemals mit Zement verputzt waren. Der Bewurf war jedoch seit langem abgefallen. Auch die Ziegel darunter sind langsam bröcklig geworden. Bald wird die ganze Wand zusammenstürzen.
Samstag ist gekommen
, sagt Nataniel heiser, mit einer Stimme, ebenso kratzig wie Zement.
Samstag arbeitet jetzt bei der Polizei
, ergänzt Estera ein
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