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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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wenig übereifrig (wie stets): So als genügte das Wort
Polizei
noch immer als Erklärung.
    Vielleicht aber war es ja trotz allem so –
jedenfalls für die Kinder
.
    Sie erinnert sich an ein Spiel, das sie damals, als sie noch im Grünen Haus wohnten, häufig spielten, das verbotene Spiel, wie Natasza es nannte. In diesem Spiel taten alle Kinder so, als würden sie sich mit ihren eigenen Dingen beschäftigen. Natasza beugte sich über ihr Nähkästchen, Deborah saß am Klavier und spielte. Dann wurde eins der Kinder ausgewählt, um in den Flur hinauszugehen und zu schreien:
Es kommt jemand.
War es Kazimir, den man ausgewählt hatte, kam er ins Zimmer gerannt und schrie:
Churchill kommt!
Hatte man Adam ausgewählt, kam er zurück und schrie:
Roosevelt kommt!
    |565| Alle mussten sich verstecken. Sie erinnerte sich an einen dieser Tage, bevor Doktor Rubin wutentbrannt jedes derartige Spektakel verbot: Im Rosa Zimmer hatte sich Kazimir in den Teppich unter dem Klavier eingerollt, und kurz darauf war Werner Samstag mit einem Topf auf dem Kopf und einem Bratenwender in der Hand hereingestolpert:
    Der Präses kommt …!
    Und flugs hatten die Kinder rundum kerzengerade dagesessen.
    Auf diese Weise war immer
er
im letzten Moment gekommen und hatte die Kinder gerettet. Als sie nach Beendigung der Brotausteilung wieder aufblickte, sah sie den Scheinwerferkegel oben neben der Tür hängen, doch hinter dem Licht war keine Person mehr auszumachen. Die Kinder mussten gesehen haben, dass Samstag ging, doch keins von ihnen schien reagiert zu haben. Auch weiterhin kam und ging Samstag, so wie er es immer getan hatte.
    Deborah zog ein Taschentuch unter ihrem Oberteil hervor, drehte es zu einem schmalen Strang, dessen Außenseite sie mit Speichel befeuchtete; presste Rosas Kopf dann unsanft zwischen ihre hochgezogenen Schenkel und begann ihr mit festen, aber achtsamen Bewegungen Blut und Schmutz aus dem Gesicht zu reiben. Rosa probierte sich zu befreien. Sie fühlte, dass sie etwas erklären musste. Die Kinder wussten nicht, wie das Getto außerhalb dieses engen Kellerraums aussah; sie wussten nicht, dass die Viertel rundum abgesperrt waren und die Gestapo bald mit ihren Hunden auftauchen würde. Sie machte den Versuch, es ihnen zu sagen, doch beim Anblick Deborahs, die ihr Gesicht mit derselben ausdruckslosen Miene säuberte, wie man einen Topf oder Tiegel abwusch, gab sie auf. Übermannt von Müdigkeit, ließ sie ihren Kopf machtlos auf den Schoß des Mädchens sinken.
    »Du musst mir vertrauen, Deborah«, sagte sie. »Warum tust du das nicht?«
    Deborah aber gibt keine Antwort. Deborah wird nie antworten. Deborah nimmt die Kohlenschaufel aus Frau Grabowskas Händen oder greift nach dem Bügelgriff des Wassereimers, den sie vom Brunnen vor dem Grünen Haus zurücktragen. Nie aber wird sie antworten.
    Ich kann das machen
, sagt sie nur.
Ich bin doch schon wach.
    Wörter, die sie vor sich hinstellt, wie man einen Gegenstand vor sich |566| hinstellen kann, egal welchen, nur um dahinter noch leichter unsichtbar zu werden. So wie Deborah ihren Rucksack mit Kamm und Spiegel unter dem ausgespannten Stoffstück vor dem Fenster in der Brzezińska zurückgelassen hat; oder das Schreibheft mit den Noten für die Musikalische Revue des Grünen Hauses. So wie alles, das jemals einem Gettobewohner gehört hatte, nun für immer zurückgelassen war. Oder was Werner Samstag zurückgelassen hatte – ja, was? Eine große weiße, blendende Lampe, die auch weiterhin vor der Kellertür brannte, die sich hinter ihm geschlossen hatte.
    Am Ende also war nur noch Rosa Smoleńska da, während Deborah sich hinabbeugte und ihr Blut und Schmerz aus dem Gesicht wischte.
    Und am Ende schloss auch Rosa ihre schmerzenden Augen.
    Und am Ende wurde auch Rosa Smoleńskas Gesicht zurückgelassen.

 
    |567| Es hatte geheißen, die Behörden würden einen Wagen schicken, um sie zum Bahnhof zu fahren, doch bislang war noch immer kein Wagen gekommen. Während all die anderen, einschließlich Fräulein Fuchs und ihr Bruder, auf den Möbeln saßen, die sie auf die Karola Miarki hinausgetragen hatten, kletterte Staszek in den Kirschbaum, in dessen riesiger Krone Herr Tausendgeld am Tag vor dem Sturz des Palastes Prinzessin Helenas Geld versteckt hatte. Frau Helena besteht jetzt darauf, dass dieses Geld heruntergeholt wird. Onkel Józef hat eine Leiter an den Stamm gelehnt, doch selbst die oberste Sprosse ist nicht hoch genug, damit Józef in die Krone hinaufreicht. So weit

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