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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Bernhard warten neben einer der geöffneten Wagentüren, so als zögerten sie einzusteigen. Ein LKW mit Plane steht bei dem Waggon, und auf dem Erdboden, unterhalb der Ladefläche, liegt das gesamte Gepäck der Herrschaften, einschließlich einiger der Holz- und Korbkäfige, in denen Prinzessin Helena ihre Vögel verwahrt.
    Als der Älteste nun eintrifft, ist es, als erwache Prinzessin Helena aus einer Art Betäubung.
Sie haben uns einen Extratransport versprochen,
sagt sie anklagend,
und jetzt bestehen sie darauf, dass wir in so einen einsteigen …!
    Ihr Mann steht neben ihr. Sein Gesichtsausdruck zeigt Verwirrung, als wäre er im Augenblick unfähig, seine Gedanken auch nur zu einem |572| einzigen Wort zu sammeln. Aber er braucht nichts zu sagen. Die Wachtposten schlagen plötzlich die Hacken zusammen zu einem gedämpften
Heil Hitler
, und durch die Menschenmenge drängt sich Biebow zu ihnen vor.
    Bei sich hat er seine beiden Mitarbeiter Ribbe und Schwind; alle drei wirken verschämt amüsiert, so als befänden sie sich, statt auf einem Bahnhof, auf einer Art obszönem Jahrmarkt.
    In Schritt und Tonfall ist Biebow jedoch entschieden.
     
    Biebow:
Somit ist es also Zeit für die Abreise.
    Judenältester:
Aber es war ein Transport vereinbart.
    Biebow:
Das hier ist der Transport.
    Judenältester (wühlt in der Innentasche seines Jacketts):
Aber es war doch vereinbart …?
    Biebow:
Ich weiß nicht, von welcher Vereinbarung Sie sprechen. Von Litzmannstadt geht in diesem Augenblick ein Transport ab, und das ist dieser hier.
     
    Der Präses steht da, den Brief in der ausgestreckten Hand, und wirkt in diesem Moment fast schuljungenhaft unschuldig. Als Biebow indes noch immer nicht bereit ist, sich mit der Sache zu befassen, weicht die Verwunderung im Gesicht des Ältesten langsam einer Art Bestürzung. Irgendetwas geschieht, das all dem entgegensteht, was er sich hat vorstellen können. Auf seine linkische, unzulängliche Weise tut er, was er kann, um die Situation zu retten.
    »Wenn wir wenigstens einen Wagen nur für uns bekommen könnten …«, sagt er und faltet das Dokument wieder sorgfältig zusammen; und Biebow ändert seinen Ton fast wie auf Kommando:
Aber das ist ja wohl völlig selbstverständlich!
, sagt er und gibt den beiden Männern seines Gefolges ein Zeichen, die ihrerseits den Wachtposten bedeuten, ihnen in den Waggon zu folgen.
    Kurze Zeit später ertönen empörte Stimmen aus dem Inneren, und aus dem Wagen kommt eine Handvoll älterer Männer, die offenbar die ganze Zeit dort drinnen gesessen haben. Sie schauen Rumkowski fast vorwurfsvoll an und beginnen Koffer und Bettzeug am Zug entlangzuschleppen, |573| auf die weiter vorn befindlichen Waggons zu, vor denen sich nun Hunderte zu Deportierender drängen.
    Dora Fuchs steigt zur Inspektion in den Wagen. Sie kehrt zurück, im Gesicht den Ausdruck leichten Widerwillens, doch zuckt sie nur mit den Schultern. Auf Befehl der deutschen Gendarmen beginnen ein paar der auf dem Bahnhof tätigen Transportarbeiter, das Gepäck der Eingetroffenen zu verladen. Einige SS-Offiziere gehen vorüber. Auch auf ihren Lippen liegt dasselbe verstohlene, leicht genierte Lächeln, so als wohnten sie einem Jahrmarktsspektakel bei.
    Staszek steigt als einer der Ersten ein. Der Wagen ist ein ganz normaler Packwagen, in der Mitte geteilt durch eine breite Trennwand. Auf dem Boden liegen Sägespäne.
    »Ich bitte um Entschuldigung, wenn es hier vielleicht ein bisschen primitiv ist, aber sie werden mit der Zeit in einen bequemeren Wagen wechseln können«, sagt Biebow. Doch hebt er beim Sprechen nicht den Blick, um sie anzuschauen. Auch dem Ältesten ist jetzt klar, dass das erhaltene Versprechen nichts wert ist. Er folgt Biebow aus dem Wagen und macht einen erneuten Versuch, ihm den von Bradfisch unterzeichneten Brief zu reichen. Doch auch diesmal ist Biebow nicht bereit, auch nur einen Blick auf das Dokument zu werfen.
    Vom Fenster des Wagens, an dem Staszek steht, sieht er einen Trupp Arbeiter in zerschlissenen und viel zu weiten Hosen in raschem Tempo näher kommen, von jüdischen Ordnungskräften mit erhobenen Schlagstöcken angetrieben. Weit vorn in dem vorwärtshastenden Haufen sind ein paar der Männer zu sehen, die man soeben noch aus diesem Wagen gejagt hat. Ein paar deutsche Posten gesellen sich zu der Gruppe, und mit viel Gebrüll und heftigen Armbewegungen wird der gesamte Haufen durch die Tür von Rumkowskis Wagen gepresst.
    Drinnen erheben sich Rumkowski und sein

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