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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Bruder, um zu protestieren, doch sie schaffen nur wenige Schritte, bevor der Druck der Menge sie zurückzwingt. Die zuletzt Hereingekommenen klammern sich am Rücken ihrer Vordermänner fest, um nicht zurück auf den Boden zu fallen, von wo jüdische Ordnungskräfte nun mit allem, was sie haben, nachdrücken, mit Handflächen, Ellbogen und Schlagstöcken. Im Wagen ertönt lautes Scheppern, als der Abfalleimer in der Ecke umgestoßen |574| und beiseitegetreten wird. Dann eine dünne Stimme, die schreit:
    Lasst mich raus, lasst mich raus …!
    Es ist der Älteste, der um jeden Preis zur Tür will. Doch Hunderte ausgehungerter, verzweifelter, weinender und schreiender Männer und Frauen stehen im Weg; selbst wenn sie gewollt hätten, sie hätten ihn nicht vorbeilassen können.
    Staszek steht noch immer am Fenster. Draußen sieht er einige Bahnarbeiter am Gleis entlanggehen. Einer von ihnen hat einen Spaten in der Hand und den Blick auf den Boden vor seinen Füßen gerichtet, so als suche er nach etwas, das er verloren hat. Hinter dem Mann mit dem Spaten gleitet die Landschaft nun langsam zurück, fast so, als setze sich die Landschaft und nicht der Waggon in Bewegung. Staszek wendet sich um, zurück in das Dunkel und Gedränge des Wagens.

|575| IV
Sehen in der Finsternis
    (August 1944 – Januar 1945)

 
    |577|
Alles schläft; die Toten allein steigen jetzt empor aus ihrem Grabe und kommen wieder zum Leben. Und noch nicht einmal dies tue ich, denn da ich nicht gestorben bin, kann ich ja nicht ins Leben zurückkehren, und wenn ich gestorben wäre, könnte ich ebenfalls nicht ins Leben zurückkehren, denn ich habe nie gelebt.
    Søren Kierkegaard

 
    |579| Ein schmaler Streifen Licht; das ist alles, wonach er sich richten kann.
    Ist der Lichtstreifen verschwunden, ist es Nacht. Kommt der Lichtstreifen zurück, ist es Tag.
    Der Lichtstreifen ist eine letzte Treppenstufe aus Licht, ungreifbar über den kantigen, ausgetretenen Stufen schwebend, die aus dem Erdkeller nach oben führen.
    Erdkeller ist vielleicht das falsche Wort. Zu der Zeit, als Feldman eine Gärtnerei besaß, benutzte er diesen Ort als Aufbewahrungsstelle für Zwiebeln, Samen und anderes, das weder Licht noch Wärme vertrug. Hier drinnen aber ist es so eng, dass es ihm vorkommt, als hätte man ihn in einen Brunnen gezwängt. Er kann kaum die Schultern in das Loch ziehen. Sitzen oder liegen ist unmöglich. Er muss stehen oder leicht hocken, Hüfte oder Lende gegen die Erdwand gepresst. Tief unten – es gibt vier Treppenstufen, jede etwa einen halben Meter hoch – geht der Kellerbrunnen in eine schmale Kammer über: ein oder ein paar Meter in der Länge und etwa halb so hoch. Hier verrichtet er seine Notdurft. Die Decke ist derart niedrig, dass er es auf der Seite liegend tun muss, das Gesicht zum Kellerschacht hinausgewandt und den Unterkörper, so weit es nur geht, in das Loch gepresst. Die Exkremente sind weich und warm, laufen ihm an der Innenseite der Schenkel hinunter, und er besitzt nichts anderes, um sich zu säubern, als ein wenig trockenes Gras, das er mit hergebracht hat.
    Doch obgleich es unerträglich ist, muss er sich dareinfinden.
    Von jetzt an bist du tot, hat Feldman gesagt, bevor er den schweren Holzdeckel zuklappte, der das Dach des Erdkellers bildet.
    Feldman versprach, dass er, wenn er könne, mit Essen vorbeikäme. Das hieß: Wenn das Aufräumkommando, zu dem er gehörte, nach Marysin kommandiert wurde. Dann konnte er sich leichter davonstehlen. Vielleicht ging es, vielleicht auch nicht. Niemand wusste es. Doch |580| wenn es ihm gelänge, mit einem Vorwand zum Erdkeller zu kommen, würde er dreimal auf den Kellerdeckel klopfen. Das wäre das Signal für Adam, dass er oben Essen abholen könne.
    Bevor er ging, ließ er das wenige zurück, was er entbehren konnte:
    Ein Stück Brot, zwei schrumpelige Zwiebeln, einen Kohlkopf, der bereits von innen her faulte.
    Jedenfalls fror Adam nicht. Ein wenig von der noch immer andauernden Spätsommerhitze schlug auch in diesen dunklen Erdschacht hinunter, und er wusste, selbst, wenn noch einige Zeit verginge, würde die Erde ihn weiter warm halten.

 
    |581| Das Licht kam und ging.
    Er versuchte, die Tage zu zählen, merkte jedoch bald, dass er sich schon wenig später nicht mehr erinnerte, ob er hier erst den dritten oder schon den fünften Tag zubrachte, oder ob noch mehr Zeit ins Land gegangen war.
    Meist stand er auf seinen Füßen oder hockte zusammengekrümmt (um nicht an die Decke zu

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