Die Elenden von Lódz
hinein in den gewaltigen Baum gelangte allein Herr Tausendgeld mit seinem längst berüchtigten rechten Arm; und als unfähig abgekanzelt, ist Józef Rumkowski nun ins Gettoinnere zurückgekehrt, um eine Stange, einen Kescher oder ein anderes Gerät aufzutreiben, mit dem das Geld heruntergeholt werden kann, bevor sie das Getto verlassen. Doch während sie warten, wer klettert da wohl voller Tatkraft in den Kirschbaum hinauf, wenn nicht Prinzessin Helenas eigener
líbling
, ihr
Stasiek
, ihr
Stasiulek.
Er klettert, wie Kinder es tun, die roten aufgeschürften Knie nach außen gedreht, die Schenkel fest um den Stamm gepresst, und spürt bereits ein herrliches Kribbeln, als sein Glied über die rauhe Borke schabt.
Weit oben in der Krone des Kirschbaums, unter den zipfligen Blättern, hängen die Reichsmarkbeutel, die Herr Tausendgeld dort aufgehängt hat. Die Beutel sehen aus, wie dessen eigenes Gesicht einst ausgesehen hat, so als wären sie in der Länge und Breite zusammengenäht. Als Staszek einen der Beutel befühlt, spürt er, wie sich drinnen etwas bewegt, es kommt ihm vor wie ein kauender Kiefer. Tief unter den Blättern, wo zuvor die süßen Früchte hingen, wartet alles, was sie aus den Wohnungen der Miarki und Okopowa zum Mitnehmen gepackt |568| haben, auf den Transport. Betten und Esstische, Chaiselongues und Kommoden; der »private« Sekretär des Präses und Prinzessin Helenas
Kredenz
(doch ohne Gläser und Services – die hatte Herr Józef extra einpacken müssen), dazu ihre Vogelbauer, jene, die noch übrig sind, voll mit schnatternden geflügelten Wesen, die an Wänden und Dächern der Käfige klettern und flattern.
Auf der anderen Seite des Blätterwerks breitet sich das Getto aus. Ein Gewimmel aus niedrigen Häusern und hölzernen Schuppen, aus denen ein paar höhere Gebäude aufragen, gleich einem fehlgewachsenen schiefen Zahn. Wenn Staszek die Hand ausstreckt, kann er mit einer einzigen Bewegung das gesamte Getto packen und es auf den Kopf stellen. Er spreizt die Finger, und mitten im Getto – mitten in seiner eigenen Handfläche – steht sein Vater und wartet.
Auch der Vater wartet auf den versprochenen Transport.
Der ist für drei Uhr am Bałucki Rynek versprochen worden, und nun ist es
drei und mehr als das
, und Rumkowski hat seit langem die Geduld verloren, ist auf den Platz hinausgetreten, um nach dem Fahrzeug Ausschau zu halten. Wie bei der Wohnung in der Miarki stehen auch hier jene Möbel und Archivschränke vor dem Haus, deren Mitnahme er zuvor als absolut erforderlich bezeichnet hat. Es ist der letzte Transport. Er ist der Einzige, der noch in dem Barackenbüro zurückgeblieben ist. Nicht einmal das Personal der deutschen Gettoverwaltung ist noch da. Er ist allein, der Himmel über ihm ist derart weit und leer, dass er das Gefühl hat, er könnte in ihn hineinstürzen wie in einen Brunnen.
In den vergangenen Nächten hat er mehrmals geträumt, dass er auf diese Weise in den Himmel gestürzt ist, und jedes Mal hat er dann auf einem offenen Platz wie diesem gelegen. Es ist finster gewesen, und rund um ihn in der Finsternis haben Reste zerstückelter Menschen gelegen. Aus der Finsternis sind schwarze Vögel gekommen, um auf die Leichen herabzustoßen. Zuweilen sind ihm die Vögel so nahe gekommen, dass er ihre weichen, raschelnden Flügel an den noch immer schmerzenden Stichen im Gesicht gespürt hat. Und während er dort, gefesselt an den Boden dieses heiligen Ortes, liegt, kommen sie, um auch ihn zu zerstückeln und zu zerteilen. In diesem Augenblick erkennt er: wenn er gefangen gewesen ist, dann nicht, weil er eingesperrt war, der Mensch ist |569| von Natur aus eingesperrt; auch nicht, weil es um ihn finster war, es ist stets finster um uns; sondern weil er somit unablässig von dem getrennt blieb, was im Grunde das seine war.
Diese Einsicht hat Erleichterung gebracht, einen Moment zunehmender Klarheit in der Finsternis, die der brausende Flügelschlag großer Vögel noch immer erfüllt.
Herr, was ist es, aus dem Du mich zusammengesetzt –
auf dass ich mich nicht zu erkennen vermag selbst in meinem eigenen Bild?
Gerade, als er das denkt, trifft der Transport ein. Es kommt der große Wagen, der Leichenwagen, vor Jahren gebaut, um den Transport der Toten effektiver zu gestalten, mit nicht weniger als sechsunddreißig Fächern und Einschüben auf ein und demselben Fahrgestell (die meisten obendrein beweglich, als schiebe man Schubladen in einen Schreibtisch oder
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