Die Elenden von Lódz
stoßen) auf einer der ausgehobenen Treppenstufen.
Wenn er schlief, dann in äußerst kurzen Intervallen und ungemein tief: so als wäre er bewusstlos. Schlaf und Wachsein glitten ineinander über, und bald spielte es keine Rolle mehr, ob es hell war oder dunkel. Was stets da war, war der Hunger. Der höhlte ihn von innen her aus, war wie Licht. Er ließ Mund, Kehle und Magen aufleuchten. Das Hungerlicht war trocken und weiß, ohne Substanz, doch scharf und blendend, eine Wunde in den Augen.
Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Feldman endlich kam.
Er zählte die Lichtstreifen, war nun so matt, dass sie sich vor seinen Augen vervielfältigten. Ein Streifen wurde zu tausend Streifen, ein einziger Tag hier unten zu Tausenden. Ihm wurde klar, wenn er auch nur noch einen einzigen Tag in seiner Erdhülle bliebe, würde er von nichts mehr einen Begriff haben. Nicht wissen, was innen ist und was außen. Was Raum und was Zeit.
Dennoch blieb er hocken.
Er dachte an die Hunde.
Früher oder später würde die Gestapo auf der Jagd nach Flüchtlingen auch zu Feldmans Gärtnerei kommen. Sie hatten ihre Listen, wussten, wer dem Aussiedlungsbefehl Folge geleistet und wer versucht hatte, sich |582| zu verstecken. Sie würden im Inneren des Gettos anfangen und sich dann bis nach Marysin vorarbeiten.
Und wo würden sie in dem Fall mit der Suche beginnen?
Feldman war überzeugt, dass sie sich mit dem Bürohäuschen und dem Keller begnügten. Also: dem richtigen Keller. Der im Haus lag. Wenn sie dort keine Menschen fänden, würden sie den Garten vermutlich nicht weiter durchsuchen, und er könnte unbesorgt sein. Glaubte Feldman.
Adam glaubte ebenfalls, dass er den Polizisten wohl entgehen würde. Bei den Hunden aber war er unsicher. Der Gedanke daran beschäftigte ihn, Tag für Tag –
Wenn sie nun mit Hunden kämen:
Wäre es möglich, den Spalt, durch den das Licht fiel und der obendrein als Luftloch diente, irgendwie zuzustopfen? Würde es überhaupt helfen? Und würde er es ertragen, sich Tag für Tag in totaler Finsternis aufzuhalten? Es ging so weit, dass er schon glaubte, die Hunde zu hören, wie sie hechelnd an ihrer Koppel zogen und mit ihren Klauen an der Kante des Holzdeckels kratzten. Wie lange würde es dauern, bis er auch glaubte, Feldmans magische drei Klopfzeichen zu vernehmen?
Er beschloss, den Lichtspalt bis auf weiteres zu behalten.
|583| Feldman kam nicht, und am Ende sah er ein, dass er hinausmusste.
Vor Hunger und Durst war er kaum noch bei sich. Bliebe er nur noch eine einzige Stunde oder gar einen Tag hier drinnen, hätte er vielleicht nicht einmal mehr die Kraft, den Deckel hochzustemmen, und dann müsste er hier unten hocken bleiben, bis er erstickt war und langsam in Verwesung überging.
Er gab genau auf den Lichtstreifen acht. Als das Licht langsam matter wurde, stieg er auf die oberste Treppenstufe und schob die Klappe mit dem Nacken und beiden Händen auf.
Draußen: ein milder feuchter Septemberabend.
Die Luft; die ersten Atemzüge, rauh und scharf in der Lunge, die gewohnt war an Erdfäule und Ziegelstaub. Er vermochte kaum die Beine vorwärtszubewegen. Wie ein Aal zitterte er am ganzen Körper, und als das Zittern nicht aufhörte, musste er den Griff um sich lösen.
Er ließ sich in feuchtes, kaltes Gras fallen und lag eine Zeitlang vollkommen reglos da, atmete und blickte in den langsam dunkler werdenden Himmel.
Es war so feucht, dass die Sterne kaum zu sehen waren; nur ein leichtfließender grauer Dunst über dem Nachthimmel, so unbestimmt, dass er lange nicht sicher war, ob er überhaupt etwas sah. Vielleicht waren es nur Lichtspiegelungen, die daher rührten, dass er so lange im Finstern geweilt hatte.
Nach einiger Zeit meinte er Stimmen zu hören.
Auch die Stimmen hatten etwas Seltsames. Sie kamen und gingen in Wellen. Zuweilen waren sie nahe, dann wieder glitten sie weiter fort. Obgleich sie jedoch ab und an in nächster Nähe zu sein schienen, war er nicht imstande, einzelne zu identifizieren. Er hörte nicht einmal, in welcher Sprache sie redeten.
|584| Das Aufräumkommando hatte seine Unterkunft in der alten Schneiderwerkstatt an der Jakuba 16. Feldman zufolge waren dort dreihundert Mann einquartiert. Darüber hinaus gab es ein weiteres Kollektiv in der Łagiewnicka, wo sich Aron Jakubowicz dem Vernehmen nach unter Biebows Schutz aufhielt. Also noch einmal zwei- bis dreihundert Mann. Ansonsten gab es im Getto niemanden mehr. Wenn kein Befehl zum
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