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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Rede, diesmal vor den
resort-lajtern
des Gettos, bekundete er seine Absicht, sämtliche »Unruhestifter und Schädlinge«, die erwiesenermaßen an den Streikaktionen beteiligt waren, aus dem Getto deportieren zu lassen. Unter den 107 Personen, die an diesem Tag auf die Liste gelangten, befanden sich gut dreißig Arbeiter aus der Möbeltischlerei in der Drukarska und ebenso viele aus der Urzędnicza.
    Einer derjenigen, dem »gekündigt worden war« und der die Möbeltischlerei in der Drukarska an diesem Tag verließ, war der damals dreißigjährige Kunsttischler Lajb Rzepin.
    Lajb Rzepin, der an der Streikaktion beteiligt gewesen war, gehörte obendrein zu jenen Arbeitern, die sich im zweiten Stockwerk verbarrikadiert und Gegenstände auf die Polizisten geworfen hatten.
    |75| Doch Lajb Rzepins Name stand auf keiner der Deportationslisten.
    Am 8. März 1941 – am selben Tag, als der erste Transport der Zwangsausgewiesenen aus dem Getto abging – nahm Lajb Rzepin eine neue Arbeit in Winograds Kleinmöbelfabrik in der Bazarowa auf. An der langen Werkbank, an der er mit seinen Leimhölzern stand, war es totenstill. Niemand sah von seiner Hände Arbeit auf, keiner wagte dem Zuträger ins Gesicht zu blicken.
     
    Von diesem Tag an war es, als werfe der Verrat seine langen Schatten ins Getto, Jude stand gegen Jude; kein Arbeiter konnte sichergehen, dass nicht auch seine Arbeitserlaubnis am nächsten Tag eingezogen und er des Gettos verwiesen würde, ohne dass er etwas anderes getan hatte, als das Recht auf sein tägliches Brot zu fordern. Doch Chaim Rumkowski wusste, wie die Gerüchte durchs Getto liefen. In seiner Rede vor den
resort-lajtern
hatte er gesagt, er habe nie mehr zu verteilen gehabt, als zu verteilen da gewesen war. Doch allein die Tatsache, dass er selbst
gebe
, berechtige ihn auch dazu zu
nehmen
. Nämlich von den schlechten, verantwortungslosen Menschen, die das Brot veruntreuten, auf das jeder ein Recht hatte.
    In dieser Hinsicht, sagte er und zitierte den Talmud,
stehe er auf festem Boden.

 
    |76| So war es also höheren Orts bestimmt: Alle im Getto sollten arbeiten.
    Indem man für seinen eigenen Lebensunterhalt sorgte, diente man auch der Allgemeinheit.
    Dennoch gab es im Getto viele, die sich nicht um das Gemeinwohl scherten und ihre Versorgung am liebsten in die eigenen Hände nahmen. Etliche von ihnen gruben hinter der Ziegelei an der Ecke Dworska, Łagiewnicka nach Kohle. Deren Hof hatte jahrelang als Abkippplatz gedient. Es dauerte oft stundenlang, bis man zur Kohleschicht vordrang. Zunächst galt es, sich durch einen Matsch aus Gemüsekraut und anderen Nahrungsabfällen zu graben, die unter Wolken wütend surrender Fliegen vor sich hin faulten, dann Schicht um Schicht durch nassen Sand und Lehm, durchsetzt mit zertrümmertem Steinzeug, dessen Scherben einem die Hände zerschnitten.
    Zu dem hier wühlenden reichlichen Dutzend Kinder gehörten auch die Brüder Jakub und Chaim Wajsberg aus der Gnieźnieńska. Jakub war zehn Jahre alt und Chaim sechs. Sie hatten Hacken und Spaten mit, doch mussten sie früher oder später dennoch ihre Hände benutzen. Die weiten Jutesäcke, die sie um die Schultern geknotet trugen, rutschten dann nach vorn und hingen ihnen vor dem Bauch, und so brauchten sie das begehrte schwarze Gold nur in die Säcke zu stopfen.
    Inzwischen kam es nur noch selten vor, dass jemand auf Kohle aus den Ziegeleiöfen stieß. Doch wenn sie Glück hatten, konnten sie aus dem Lehm ein altes Holzstück, Lumpen oder etwas anderes mit Kohlenstaub Vermischtes ausgraben. Legte man einen solchen Fetzen in den Ofen, ließ sich das Feuer zumindest ein paar weitere Stunden am Brennen halten, ein gutes, gleichmäßiges, stetiges Feuer, für so etwas bekam man wenigstens zwanzig, dreißig Pfennige, wenn man es auf dem Jojne-Pilscer-Platz verkaufte.
    Jakub und Chaim gruben meist zusammen mit zwei Brüdern aus dem |77| Nachbarhaus, Feliks und Dawid Frydman, doch auch das war keine Garantie dafür, dass sie in Ruhe arbeiten durften. Es genügte, dass ein paar Erwachsene, die ebenfalls auf der Jagd nach Kohle waren, an ihrem Platz vorbeikamen, und ruckzuck waren sie ihre Kohlensäcke los. Die Kinder hatten deshalb Adam Rzepin gemeinsam als Wache angestellt.
    Adam Rzepin wohnte im Stockwerk über Wajsbergs und war in den Häusern um die Gnieźnieńska als
Adam, der Hässliche
oder
Adam Schiefnase
bekannt, weil er aussah, als hätte er bei der Geburt etwas auf die Nase bekommen. Er selbst sagte immer,

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