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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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besonders ihre hysterisch schreienden Stimmen sind von überallher zu hören:
Schnell, schnell! Nicht stehen bleiben! Los!
    Keine Minute Atempause oder Ruhe.
    Direkt am Zug stehen Männer mit identischen Dienstmützen und Armbinden, auf denen ein Davidstern zu sehen ist; zunächst hat sie diese für Bahnhofspersonal gehalten, nun aber versteht sie, dass es sich um eine Art Polizisten handelt. Mehrere von ihnen stellen sich den Leuten in den Weg und verlangen, die Ausweispapiere zu sehen oder dass sämtliches mitgebrachtes Gepäck geöffnet wird, und auf diese Weise (das wird ihr erst später klar) verschwinden Unmengen an Kleidung und Wertgegenständen, bevor die Neuankömmlinge überhaupt richtig am Ziel sind.
    Auch unter den polnischen Juden befinden sich Halbwüchsige, meist Jungen, die mittels Bestechung durch die polizeilichen Absperrlinien gelangt waren und jetzt mit Handwagen näher kommen und anbieten, das Gepäck zu fahren. Eine Frau aus dem Transport (nicht aus ihrem Wagen) muss den Kontakt zu ihrem Mann oder Sohn verloren haben, sie ruft verzweifelt seinen Namen in die Menge. Eine andere Frau – direkt hinter Věra – fällt plötzlich auf ihre nackten Knie und bricht in Weinen aus.
    Ein herzzerreißendes, ohnmächtiges Weinen.
    Wo haben sie uns hingebracht? Wo sind wir?
    Ein Stück entfernt steht eine Handvoll Deutscher in knielangen, graugrünen Uniformmänteln, das Gewehr auf dem Rücken. Sie stampfen mit ihren Stiefeln auf, um sich in der Kälte warm zu halten, und lächeln allesamt, obwohl sie gleichgültig tun, so als sähen sie nichts. Vielleicht denken sie an den Verdienst, der auf sie wartet, jetzt, wo die Juden (allesamt aus dem Reich und mit all ihrer Habe, die in Koffern und Rucksäcken verpackt und im Mantelfutter eingenäht ist) endlich |121| gezwungen werden, das zurückzuzahlen, was sie dem deutschen Volk schulden.
    *
    Aus dem Tagebuch:
     
    Wir gehen wie in Trance. Der Marsch scheint eine Unendlichkeit zu dauern. Marode Mietshäuser mit zerbrochenen Scheiben oder gähnend leeren Fensterlöchern. Kein Fahrzeugverkehr; aber überall dasselbe Gedränge. Männer und Frauen schleppen Lastkarren und stinkende Latrinentonnen hinter sich her – zwei vorn und zwei schieben von hinten. Wie Lasttiere!
    Vor allem aber Kinder. Sie wimmeln wie Schwärme um unsere Füße, sobald wir innerhalb der Absperrung sind – und erst als die Polizisten, die neben uns hermarschieren, herbeikommen und es ihnen verbieten, ziehen sie sich zurück.
    Wir sind jetzt an unserem »endgültigen Bestimmungsort« angelangt – einem alten Schulgebäude. Das weite Einfahrtstor zum Hof ist mit stinkendem Abwasser überschwemmt. Ein paar der Jüngeren legen Bretter aus, damit die Älteren trockenen Fußes hinübergelangen, und bilden dann eine Kette, um die Koffer durch das Tor zu reichen.
    Die Leute schubsen, pressen sich vorwärts: Die Klassenräume, einschließlich der Korridore von einem Ende des Gebäudes zum anderen, sind allesamt zu Schlafplätzen umfunktioniert. Holzpritschen entlang der Fenster, jede 75 Zentimeter breit und jedenfalls nicht lang genug, um den Füßen innerhalb des Rahmens Platz zu bieten. Auf derart engem Raum muss man also auch das Gepäck verstauen, den Rucksack obenan, den Koffer ans Fußende. In unserem Zimmer »wohnen« ungefähr sechzig Menschen. Ebenso viele auf dem Korridor davor! Nachdem man allen ihre Plätze zugewiesen hat, wird für jeden ein Brot ausgeteilt, das eine ganze Woche reichen soll.
    Am Morgen: schlabbriger schwarzer Kaffee, nichts anderes als braunes Wasser.
    Junge Frauen aus dem Getto bringen große Kessel mit Suppe aus der Gettosuppenküche.
    |122| Mit der Suppe ist es nicht weit her – aufgewärmtes Wasser mit etwas Grünlichem darin. Fast alle stürzen sich aufs Essen – auch diejenigen, die anfangs sagten, sie wollten nichts! Es stellt sich heraus, dass diese Suppe die einzige Mahlzeit des Tages ist.
    Sich zu waschen, fällt schwer. Wir müssen auf den Hof hinaus, weil aus den Hähnen kein Wasser fließt. Und dann: im Schnee Schlange stehen zu den Latrinen. Toilettenpapier – vergiss es. Das wenige, was vorhanden ist, bekommen die Kranken! Es heißt, im Getto würden Tuberkulose und Flecktyphus grassieren. Jeder zweite Gettobewohner sei bereits erkrankt. Meine Hände schmerzen, bis zu den Ellbogen hinauf ein ständig anhaltendes Ziehen, das immer schlimmer wird, wenn man seine Sachen in eiskaltem Wasser waschen muss. Es ist wieder das Rheuma!
    Einige haben Leinen um

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