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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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weiter Schacht, gebaut wie ein Verlies, mit einer Öffnung in der Decke, durch die Gefangene nur hinein- oder hinausgebracht werden konnten, wenn die Gefängniswärter eine lange, mit einer Art Gabel versehene Eisenstange zu Hilfe nahmen, ungefähr wie wenn man Frösche aus einem Teich angeln will. In der Nähe der |138| Öffnung standen ein paar einfache Eisenpritschen an den Wänden, auf denen die bevorzugten Gefangenen schliefen. Der Rest musste sich, so gut es ging, im hinteren Teil neben der Latrinenrinne zusammendrängen.
    Das aber war nur der Vorraum. Hinter der Gittertür verbreiterte sich die Grube zu weiteren Gängen, die in den zerbröckelnden Steinuntergrund hinabführten. Als dann später im Jahr die Deportationen aus dem Getto einsetzten, sollten Tausende von Männern in diesen gewundenen Gängen gefangen gehalten werden. Es war, als hätte das Getto tief
drinnen
oder tief
unten
(je nachdem, wie man die Sache betrachtete) keinerlei Boden. Aus diesen verschlungenen Schachtgängen drang ein ständiges Wimmern herauf, als wären die Klagelaute all derer, die hier je eingesessen hatten, zu einem eintönigen Gesang verwoben, der niemals verstummte, ungeachtet, wie groß die Zahl jener war, die auf ihre Deportation oder Freilassung warteten.
    Dann und wann wurde Adam zum Verhör zu Hercberg geholt.
    Man brachte ihn ins sogenannte Filmtheater, das nach außen hin kein Vernehmungslokal, sondern eher ein privates Büro war, eingerichtet mit allem, was einem
Reichsbaluter
an Luxus und Überfluss nur einfallen konnte. Hier gab es gepolsterte Ledermöbel, flankiert von »orientalischen« Lampen mit Seidenborten; einen Schreibtisch mit ausziehbaren Fächern, Regale mit vielen Schlüsseln und eine Schreibplatte mit Intarsien und eingelassenem Tintenfass aus echtem Silber. Vor allem aber gab es hier Essen, der Verführer Hercberg hatte alles aufgetischt, was sich ein hungernder Gefangener nur erträumen konnte, in Form von Schinken und
kiełbasa
, ein ganzes Fass
kraut
; fettig glänzende Käse in Leinentüchern; duftendes frischgebackenes Brot, das die Angestellten der in der Marysińska gelegenen Bäckerei auf Hercbergs ausdrücklichen Befehl allmorgendlich herbrachten.
    Ja, aber, komm nur näher, hab keine Angst …!
, sagte Hercberg zu Adam Rzepin und lächelte genauso einladend, wie das Fett des Schinkens glänzte. Und als Adam am Ende nicht anders konnte, als seine zitternde Hand nach dem Stückchen Brot auszustrecken, das ganz am Rand des Tellers lag, packte Hercberg den unverbesserlichen Sünder hart im Genick –
    |139|
Sieh an … Nicht einmal jetzt kannst du deine Hände im Zaum halten, du elender Kerl!
    – und stieß ihn mit dem Kopf gegen die Wand.
     
    Sie misshandelten ihn ununterbrochen. Zuweilen mit den blanken Fäusten, dann wieder mit langen flachen Holzknüppeln, die sie systematisch vom Gesäß, an den Innenseiten der Schenkel entlang bis zu Fußknöcheln und Achillessehnen laufen ließen. Sie wollten erfahren, was er über Mojsze Stern wusste. Sie wollten wissen, mit wem dieser nunmehr »Geschäfte machte«. Sie hatten auch gehört, dass er mit dem Händler Nussbrecher zu tun gehabt hatte. Zu wem hatte ihm Nussbrecher empfohlen, mit den Waren zu gehen? Zuletzt wollten Sie alles über die Personen erfahren, die er bestohlen hatte. Sie wollten die
Namen
all der reichen Prager Juden wissen. Adam hatte doch ihre Papiere gestohlen, oder nicht? Er wusste doch, wie sie hießen.
    Adam schrie, bis er das Bewusstsein verlor, aber Lida fügte ihre hohe Stimme zu dem Gesang, der aus allen Gängen der Grube heraufdrang; ein Klang wie der vibrierende Oberton einer bis zum Bersten gespannten Saite:
    Gib ihnen nichts, gib ihnen nichts
, durchdrang ihn ihre gellende Stimme.
    Deshalb gab er ihnen nichts. Keine Namen.
     
    Zurück in der Grube träumt Adam von dem Tag vor vielen Jahren, als ihr Vater die ganze Familie mitnahm, um das Meer zu sehen. Sie waren in einem kleinen Citroën von Łódź losgefahren, den ihnen einer der Meister des Sägewerks geliehen hatte. Szaja hatte den Wagen selbst gefahren.
    Sopot
. So hatte der Ort geheißen, wo sie gewesen waren. Adam erinnerte sich nun.
    Allein in der Wohnung in der Gnieźnieńska träumt Lida vom selben Meer. Und der Bruder ist bei ihr in diesem Traum, wie er bei allem, was sie sagt und tut, bei ihr ist; auch wenn sie schläft oder fällt.
    In Sopot hatte es eine lange Holzbrücke gegeben, die direkt ins Meer hinausführte und Mole hieß. Auf beiden Seiten der

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