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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Mole lagen Strände |140| mit feinem, warmem, lockerem Sand, übersät mit Muscheln, und dicht an der Strandpromenade hatten hohe Badehäuser mit rot-weiß-gestreiften Markisen gestanden, wo die wirklich
reichen
und
bedeutenden
Gäste sich umzogen. Adam erinnert sich, wie mehrere dieser
reichen
und
bedeutenden Personen
den Hut vor ihnen gezogen hatten, als sie später am Abend auf der Mole entlanggingen, so als wären sie keine armen Leute aus Łódź und absolut keine Juden.
    Lida erinnert sich, wie sie beim Hinauswaten ins seichte Wasser mit einem Mal begriffen hatte, dass das Meer keine platte ebene weite Fläche war wie auf den Ansichtskarten. Nein, das Meer war ein lebendiges Wesen. Es bewegte sich. Wogte und wallte und hob sich unablässig hinauf und über ihren Rücken, sank dann zurück zwischen ihre Beine und Knie. Verwandelte sich unablässig.
    Im Augenblick gleicht es einem riesigen Ball.
    Sie steht mit beiden Armen um den großen blanken Meeresball, ohne dass es ihr gelingt, ihn gänzlich zu umfassen. Die Oberfläche des Balls ist glatt und nass. Vor allem aber entgleitet er ihr unentwegt. Zwei Handflächen reichen nicht aus, um das Meer festzuhalten, auch der Blick gleitet, und als es ihr endlich gelingt, den Blick zu heben, sieht sie das Meer davonfließen, den ganzen Weg bis hin zum Horizont.
    In der Erinnerung trinkt sie es aus. In langen tiefen Zügen leert sie das Meer, trinkt Schluck für Schluck, und es schmeckt nicht wie die Suppe, mit der Adam sie täglich füttert, sondern bitter und salzig, und je mehr sie trinkt, desto deutlicher fühlt sie, dass da etwas in seinem Inneren ist, etwas Schlüpfriges und Glattes, das, wenn es ihr erst gelingt, die Zähne darumzuschlagen, zum Fisch wird mit hartem, schuppigem Schwanz, der an Gaumensegel und Wangeninnerem kratzt. Der Fisch schmeckt bitter und scharf und salzig, aber auch lebendig und weich, und sie beißt zu, bis die Gräten krachen, saugt, legt die Zunge an rauhe Fischschuppen und glattes weiches Gedärm.
    Und in seiner Zelle fühlt auch Adam, wie sich seine Mundhöhle mit Fischgeschmack füllt, bitter und salzig wie nichts anderes, das er je geschmeckt hat; und vermutlich schreit er geradeheraus, denn plötzlich sind draußen Wärter zu hören.
    |141| Sie stürmen mit rasselnden Schlüsselbunden herbei, die Arme schon zum Schlag erhoben.
     
    Sei still, du Scheißkerl,
    oder willst du, dass man dich auch losschickt!
     
    Und sie stecken die Stange mit der langen Fangschlinge nach unten, und als er zurückfährt, damit ihm der Haken nicht ins Gesicht schlägt, hat der sich in eine schwielige Wärterhand verwandelt, die ihn im Genick packt und sein Gesicht auf den Zellenboden presst. Vom Nacken breitet sich ein trunkenes Taubheitsgefühl aus. Der Mund ist voller Blut, er kann kaum schlucken. Doch als es ihm endlich gelingt, schmeckt alles nach Fisch, sein ganzes Ich ein einziger Bluttraum von Fisch und lebendigem Wasser.
    *
    Als sie kamen, um ihn zu holen, hatte Adam Rzepin mehr als vier Wochen in der Grube gesessen. Einer der Wärter, die das Gitter aufschlossen, hatte ein Formular dabei. Adam musste sagen, wie er hieß, wo er wohnte und wie der Name seines Vaters war. Dann nahmen sie die Stange mit der Schlinge und zogen ihn heraus.
    Draußen war es kalt! Vor einem Monat hatte nur grauer Schneematsch auf den Straßen gelegen; jetzt war das Getto wie eingekapselt in ein leuchtend weißes Schneegehäuse. Er sah die Sonne Funken aus den Schneewällen schlagen, das Licht war so blendend scharf, dass er kaum Himmel und Erde unterscheiden konnte.
    Auf dem eingezäunten Gefängnishof herrschte Getümmel wie auf einem Marktplatz; die Leute schleppten schwere Taschen umher, trugen Matratzen oder Bettzeug um die Schultern geknotet. Den unaufhörlichen Lärm aber, das Geschrei eines Marktes gab es hier nicht. Die Leute bewegten sich eher unwillig, wie Sträflinge in Reih und Glied; seltsam still und diszipliniert. Das einzige Geräusch, das sich in dem frostklaren Morgen deutlich vernehmen ließ, war das Scheppern und Klingen der Kochgefäße, die an Gürteln und Gepäckriemen baumelten.
    |142| »Was geschieht denn hier?«, fragte er einen der Wärter.
    »Mit dir ist es vorbei, du sollst weg«, sagte der Wärter und reichte Adams Arbeitskarte kurzerhand einem Funktionär hinüber, der an einem Tischchen saß. Der stempelte die Dokumente eilig, und im nächsten Moment erhielt Adam ein Stück Brot und eine Schüssel Suppe und wurde angewiesen, sich in den

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