Die Elenden von Lódz
ein gewohnterer Anblick. Zuweilen hatte man keine Pferde, die man vorspannen konnte, und die Leichenwagen wurden wie auch die Fäkalienfuhren von Männern gezogen, die man an die Deichseln geschirrt oder gespannt hatte, während andere Unglückliche sich dareinfinden mussten, die Wagen von hinten anzuschieben.
Hatte sie das Wasser ins Haus getragen, ging sie wieder nach draußen und wartete, bis sie Józef Feldman seine Kohleneimer und -bündel die Zagajnikowa heraufschleppen sah. Sommers wie winters war er mit demselben vergilbten Schaffellmantel und derselben Fellmütze bekleidet, die sein Gesicht fast zwischen all den Bündeln verschwinden ließen. Rosa wusste, dass der Älteste Feldman instruiert hatte, im Grünen Haus stets zuerst zu heizen und überhaupt alles, was er in Händen hielt, fallen zu lassen, wann immer man
dort oben
Hilfe brauchte. Seine eigentliche Anstellung hatte Feldman bei Baruch Praszkiers Totengräbern. Rosa wagte es nie, ihm zu nahe zu kommen – sie meinte von seinen Händen den Geruch des Todes wahrzunehmen –, doch half sie ihm mit den Eimern in den Keller hinunter, so dass er die Kohle in den Ofen schippen und mit dem Heizen beginnen konnte. Inzwischen hatte Malwina die Kinder geweckt. Sie standen nun bibbernd im engen Flur und warteten darauf, dass die Reihe, sich zu waschen, an sie käme. Rosa hatte einen Teil des kalten Brunnenwassers in einen großen Bottich gekippt, |159| den Chaja allmorgendlich in die Tür zwischen Küche und Speisesaal stellte. Erst wenn die Kinder mit dem Waschen fertig waren, durften sie an den Tisch treten, wo Chaja ihnen etwas Brot abschnitt. Mit der Zeit wurden die Brotscheiben immer dünner, doch stets gab es zumindest eine Scheibe für jeden, dünn mit Margarine bestrichen.
Eines Morgens hatte Feldman einen kleinen blassen, schüchternen Gesellen bei sich, von dem keiner wusste, wie er hieß, und auch nicht, wo er zu Hause war. Im Unterschied zu Werner und Mirjam schien er jedoch nicht mit den Transporten gekommen zu sein. Als Rosa Smoleńska fragte, wer er sei und was er hier tue, machte der Bursche nur ein paar übermütige Schritte ins Zimmer hinein und verkündete, so als deklamiere er ein Lied oder Gedicht:
Hab gehört, hier gäbe es ein Klavier zu stimmen!
Der Bursche war der Sohn eines Instrumentenbauers namens Rozner, der in den vornehmen Łódźer Kreisen derart bekannt war, dass ihn niemand anders nannte als »den Klavierstimmer«. Herr Rozner reparierte indes auch andere Instrumente: Flöten, Rohrblattinstrumente, Posaunen und Schlagzeuge von Militärkapellen. Einige seiner Instrumente hatte er in einem luxuriös ausgestatteten Schaukabinett vor seiner Werkstatt ausgestellt.
Die Werkstatt selbst aber war eng und schlicht, das bemerkte man erst, wenn man hineintrat; wer jedoch draußen auf der Straße vorbeiging, sah nur das Schaukabinett mit den spiegelblanken Instrumenten, die auf Kissen aus Plüsch und Seide ruhten. Da Rozner Jude war, hieß es natürlich, dass er in seinem Geschäft Geld versteckte. Ein Mob betrunkener Volksdeutscher, angeführt von zwei SS-Offizieren, drang eines Abends bei dem Instrumentenbauer ein und verlangte, all das Geld direkt auf die Hand zu bekommen, und als Rozner bestritt, etwas versteckt zu haben, gingen sie mit Knüppeln und Schlagstöcken auf den Laden los, bis alle Instrumente kurz und klein geschlagen waren und Rozner selbst in seinem demolierten Schaukabinett lag, mit zertrümmertem Schädel und ohne heilen Knochen im Leib. In letzter Minute war Rozners Sohn die Flucht gelungen, mit dem Wertvollsten, was der |160| Vater besaß: zwei zusammengenähten Beuteln aus grobem Segeltuch, in denen Herr Rozner seine Werkzeuge verwahrte, wenn er zu den reichen Łódźer Familien ging, um ihre Klaviere zu stimmen. Mit diesen beiden Segeltuchbeuteln über der Schulter sah man den Sohn nun an allen erdenklichen Orten des Gettos, in dem er umherwanderte und das Werk seines toten Vaters zu vollenden gedachte.
Das Klavier im Rosa Zimmer hatte einen Feuchtigkeitsschaden, und in seinem Inneren musste nun stets eine Schüssel mit Wasser stehen, damit das Holz keine Risse bekam und die Saiten sich nicht aus ihren Halterungen lösten. Der Klavierstimmer nahm diesen und andere Schäden gründlich in Augenschein. Er prüfte die Pedale; strich mit der Handfläche vorsichtig über Deckel und Seiten, klopfte den gesamten Instrumentenkörper mit den Fingerknöcheln ab. Erst als er sicher war, dass keine unerwarteten
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