Die Elenden von Lódz
Töne entstanden, bat er Kazimir, den Klavierdeckel aufzuhalten, während er selbst die Rückwand des Gehäuses abhob und sich ins Innere des Instruments begab. Er war so klein von Wuchs, dass er wie ein Affe in dem freigelegten Saitengewirr hängen, hier etwas lösen, da etwas festschrauben, lockern und spannen konnte. Wenn er allem Anschein nach unbeschädigt wieder aus dem Klavier stieg, hatte er sich von innen her durch die gesamte Klaviatur gearbeitet, Hämmerchen für Hämmerchen. Mit dem Ausdruck schlecht verhüllten Triumphs in seinem schrumpligen Gesicht setzte er eine Stimmgabel auf den Klavierdeckel; bedeutete darauf Deborah Żurawska mit einem Lächeln, sie möge auf dem Klavierschemel Platz nehmen.
Deborah setzte sich und schlug einen sauber klingenden C-Dur-Akkord an, den die Gabel deutlich auffing und verstärkte.
Die Kinder klatschten, und als Deborah eine Chopin-Etüde zu spielen begann, setzte sich der Klavierstimmer neben sie und begleitete sie mit seltsamen Trillern und Arpeggien im Diskant. Es war offensichtlich, dass er nie richtig spielen, nur Akkordfolgen und Tonartwechsel zu imitieren gelernt hatte: so als hätte er jede von Chopin benutzte Phrase und jedes Motiv in seine Stoffbeutel gestopft und sie dann erneut über der Klaviatur ausgestreut, ganz nach Belieben und ohne jegliche Ordnung. Doch war das in diesem Augenblick egal. Deborah spielte, und der Klavierstimmer folgte ihr, und bald waren die beiden so aufeinander |161| eingespielt, dass niemand hören konnte, wo ihr Akkord endete und der seine einsetzte.
Ein paar Tage später waren Musik und Gesangsnummern bereits geschrieben; das »Orchester« hatte geprobt; selbst eine Schauspielertruppe war ausgewählt worden, bestehend aus allen Kinderheimkindern mit einem Herrn SAMSTAG, Werner (
dyrektor teatru
), an der Spitze, der umherging und handgeschriebene Einladungskarten verteilte:
Das Schauspielerkollektiv »Grine hois« gibt
Der kleine Wassermann
Schauspiel in einem Akt
Von S. Y. »Ritter«
Der junge Adam Gonik las das Gedicht »Der Frühling ist gekommen« auf Hebräisch; ein kleiner Kinderchor, geleitet von Direktor Rubin höchstpersönlich, trug anschließend Lieder und Gedichte von Bialik vor. Während dieser Ouvertüre war der spinnengleiche Klavierstimmer im Flur die Stehleiter emporgeklettert und hatte das Stahlgehäuse der Klingel entfernt, die sich an der Korridorwand vor der Küche befand. Mit einem der kleinen Eisenhämmer, die er in seinen Stoffbeuteln verwahrte, konnte er sie kurzschließen und einen Klingelton erzeugen, der durch das ganze Grüne Haus schrillte:
Riiiiiiiiiii-iiiiiiiing
Das war das Signal: Die Kinder aus dem Chor liefen nach vorn und zogen den grünen Stoff beiseite, den die Schauspielertruppe als Vorhang aufgehängt hatte. Kazimir stolperte auf die Bühne, verkleidet als reicher polnischer Edelmann, und sagte zu der Gruppe Juden, die von den Truppen des russischen Zaren aus ihrem galizischen Heimatdorf vertrieben worden waren, dass er sie allesamt selbstverständlich in seinem großen Schlosskeller verstecken würde. Deborah hämmerte eine rasche Folge dramatischer Akkorde in die Tasten, während sich der Klavierstimmer auf seiner Leiter aufrichtete und mit lauter deklamierender Stimme schrie –
DER RUSSE KOMMT! DER RUSSE KOMMT!
– und alle Kinder sangen:
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Unglik, schrek un mojres
Mir weisn nit fun wanen
Ojch hajnt wi in ale dojren
Sajnen mir ojsgeschtanen!
3
Dann kam Werner Samstag auf die Bühne gestapft, in einem knöchellangen schwarzen Mantel wie ein richtiger Rebbe und mit einem großen schwarzen
schtrejmel
, den er selbst hergestellt haben musste, denn Teile des Samtfutters hingen ihm bis in die Augen. Auch der Bart war Eigenanfertigung; ein grauer Stofffetzen, in dem sein Lächeln wie immer weiß und blank leuchtete, so als fehlten ihm die Lippen. Deborah hämmerte mit beiden Händen bis tief ins Bassregister hinunter, und während die Kinderstimmen darüber im kühnen Diskant schlingerten, hob
Rebbe Samstag
mahnend den Finger erst zum Publikum, dann zum Himmel; worauf er deklamierte:
Schrajt jidn, schrajt arojf
Schrajt hecher ahin dort;
Wekt ir dem altn ojf –
Wos schloft er klojmerscht dort?
Wemen wil er gor gewinen?
Wos saj nen mir – a flig?
Los er unds a zchus gefinen
Oj, es zol schojn sajn genug
4
Als Rosa Smoleńska später an das Spektakel zurückdachte, meinte sie sich zu erinnern, dass die Klingel an der Küchenwand den ganzen Abend
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