Die Elenden von Lódz
hatten zurücklassen müssen, zwischen dem Bahnhof Radogoszcz und dem Bałucki Rynek transportiert hatte, kehrten nun zurück, die Ladefläche mit steifgefrorenen Leichen beladen.
Der Aussiedlungsbeschluss ließ sich anfechten.
Der Einsprucherhebende musste mit seinem Antrag innerhalb von fünf Tagen nach Erhalt des Aussiedlungsbeschlusses bei der Kommission vorstellig werden. Um zugelassen zu werden, musste der Einsprucherhebende Bescheinigungen des Arbeitsgebers vorlegen, die bezeugten, dass der Antragsteller eine Anstellung innehatte und seinen Arbeitseinsatz zu vollster Zufriedenheit erledigte. Derartige Bescheinigungen ließen sich im Getto für wenige Mark kaufen. Man konnte sich auch die Hilfe von Kopisten erkaufen, die den Einspruch anhand bestimmter gültiger Standardformulierungen aufsetzten.
Das erklärt den unbeholfen förmlichen Ton einiger dieser Anträge:
An die Aussiedlungskommission –
Betr. Ausreiseaufforderung Nr. VII / 211–23
Hochverehrte Aussiedlungskommission,
hiermit bitte ich vielmals um die Bewilligung eines Aufschubs hinsichtlich des Geheißes zur Ausreise betreffend mich selbst, meine Ehefrau Zora und meine vier Kinder; in gleicher Weise meine Mutter: Frau Libkowicz, Witwe des Herrn Maschinisten Paweł Libkowicz. Seit mehreren Jahren bin ich ausgebildeter Elektriker, und meine Frau Zora arbeitet als Hutmacherin im Ressort Nr. 14 in der Brzezińska. Herr
resort-lajter
Viekl zeigte sich mit ihr als pflichtbewusster, tüchtiger Arbeiterin äußerst zufrieden, und unsere Familie ist nie mit dem Gesetz aneinandergeraten, |194| sondern jeder Einzelne von uns hat sein Brot stets ehrlich verdient, weshalb der Ausreisebescheid für mich und meine Familie wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam. Verschiedentlich habe ich unseren Präses sagen hören, dass eine Arbeitskarte und geordnete häusliche Verhältnisse die beste Garantie für Ruhe und Frieden im Getto seien, und frage mich daher, wie es nun zu dem Punkt gekommen ist, dass man normale ordentliche Arbeiter einer Bestrafung aussetzt.
Ich danke untertänigst für Ihre Aufmerksamkeit und bitte die Herren Aussiedlungskommissionsmitglieder, mich und meine Frau freundlichst zu schonen, gleichfalls meine Mutter, die nach langem arbeitsreichen Leben nunmehr schwach auf den Beinen ist und auch im Übrigen nicht in der Verfassung, eine Aussiedlung auf sich zu nehmen.
Litzmannstadt Getto, 7/3/1942
Józef Libkowicz
Im März hatte der Druck auf die Aussiedlungskommission derart zugenommen, dass man sich gezwungen sah, in größere, in der Rybna gelegene Räume umzuziehen. Um alle Einsprüche bearbeiten zu können, wurde die Anzahl der Sekretärinnen und Sachbearbeiter von vier auf etwas über zwanzig erhöht. Auch eine Telefonistin wurde eingestellt, die vor allem die Fragen der deutschen Gettoverwaltung zu beantworten hatte. Allmorgendlich, noch vor Öffnung des Kommissionsbüros um acht Uhr, wartete eine Schlange von mehr als hundert Beschwerdeführern, sogenannte
Petenten
, darauf, am Schalter empfangen zu werden.
In besonders schwer zu beurteilenden Fällen geschah es auch, das Shlomo Hercberg den Antragstellern einen persönlichen Besuch abstattete. Dafür gab es einen besonderen Ausdruck im Getto. Man sagte, niemand entkomme seinem
tnoim
, falls er nicht zuerst gelernt hatte,
Hercberg zu küssen
.
Tnoim
– Ehevertrag – nannte man die vorgedruckten Formulare, die die Aussiedlungskommission an die Ausgewählten verschickte, mit Datum und Zeitpunkt, an dem sie sich an den Sammelplätzen einzufinden hatten.
|195| Hercberg konnte sich zur Not bereiterklären, den Zeitpunkt der Abreise ein wenig zu verschieben. Doch der Preis für einen solchen Aufschub war hoch. Um für unbegrenzte Zeit im Getto verbleiben zu dürfen, war der Preis, wenn möglich, noch höher, und die Bezahlung hatte stets in bar zu erfolgen.
Der einstige Filmvorführer Shlomo Hercberg beschaffte sich so in kürzester Zeit ein ansehnliches Vermögen. Doch musste in seinen Berechnungen irgendetwas schiefgelaufen sein.
Oder jemand mit womöglich noch besseren
plejzes
hatte ihn angeschwärzt.
Am Morgen des 13. März 1942 war Shlomo Hercbergs Erfolgssaga zu Ende. Die Kripo schlug bei zwei von Hercbergs Wohnungen zu: in der Stadtwohnung in der Drukarska und seinem Sommerhaus in Marysin. Überdies verschaffte man sich Zugang zu seinem Büro in der Młynarska und drang in die von Hercberg versperrten und verschlossenen Räume im Zentralgefängnis
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