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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Westjuden
ebenso wie
alle Übrigen
. Wer für nicht arbeitsfähig erklärt werde, müsse das Getto verlassen. Alle anderen könnten bleiben.
     
    |198|
Ältester:
Ist einem Jude erlaubt, ein paar Worte zu sagen?
    Richter:
Natürlich. Ihre Meinung wird immer gern gehört, Rumkowski.
    Ältester:
Was diesen Arbeitseinsatz angeht, müssen für die Kranken und Schwachen des Gettos um jeden Preis Ausnahmen gemacht werden. Für ihre Versorgung werde ich eigene Mittel einsetzen.
    Richter:
Aber das ist doch vollkommen selbstverständlich, Rumkowski. Wir sind doch keine Unmenschen.
     
    Auf Anordnung des Sicherheitsdienstes ließ die Gettoverwaltung nun ein Gerücht über den Verbleib der Deportierten verbreiten. Es hieß, man hätte sie in die Stadt Chełmno, deutsch Kulmhof, im Bezirk Warthbrücken gebracht. Nach der Evakuierung der deutschen Bevölkerung war dort ein Barackenlager errichtet worden, das in der Größe dem Arbeitslager entsprach, das man ursprünglich außerhalb von Lublin geplant hatte. Der Gestapo zufolge waren hunderttausend Juden aus dem Warthegau dorthin
verlagert
worden, darunter also jene vierzigtausend, die zu einem früheren Zeitpunkt aus Litzmannstadt evakuiert worden waren. Die Lebensbedingungen seien, so hieß es,
überaus
gut. Am Tag würden drei volle Mahlzeiten gereicht; alle, die sich für arbeitsfähig hielten, dürften obendrein ein leichtes Tagewerk zu akzeptablen Löhnen ausüben. Die Männer wären demnach zum überwiegenden Teil mit der Ausbesserung der Straßen beschäftigt und die Frauen in der Landwirtschaft.
    Das Gerücht über »das Arbeitslager in Warthbrücken« verbreitete sich rasch von Mund zu Mund, und bald wusste ein jeder, was offiziell gesagt worden war, doch niemand glaubte daran. Es war möglich, dass die Deportierten noch lebten, dass sie sich in einem anderen Arbeitslager, dass sie sich irgendwo im Wartheland oder im Generalgouvernement befanden. In einem neuerrichteten Arbeitslager in Warthbrücken indes befanden sie sich ganz gewiss nicht.
    *
    Vor der kommunalen Suppenküche in der Młynarska stand seit dem Morgengrauen eine lange Schlange und wartete darauf, »gestempelt« zu |199| werden. Der größte Teil der Wartenden waren deutsche Juden aus den Wohnkollektiven: Männer, Frauen und Kinder bunt durcheinander, da die Transportleiter gesagt hatten, dass nur diejenigen, die sich freiwillig einer ärztlichen Untersuchung unterzögen, anschließend das Recht hätten, ihre tägliche Ration Suppe in Empfang zu nehmen.
    Am Eingang teilte sich die Schlange in eine männliche und eine weibliche.
    Die Männer mussten sich im Erdgeschoss zu einem weit hinten liegenden Tresen schieben, wo sonst die Küchenmamsells mit ihren Suppenkesseln standen, nun aber eine Reihe ernst blickender Ärzte in weißen Kitteln warteten. Während die Arbeitskarten der Männer geprüft wurden, mussten sie ihre Oberkörper unter penibel palpierenden Ärztefingern mal hierhin, mal dahin drehen; worauf ihnen der Chefarzt einen in blaue Tinte getauchten Stempel auf Brust, Rücken oder Taille drückte.
    Das Stempeln erfolgte nach einem Buchstabencode; er begann bei »A« – für voll arbeitsfähig – und reichte bis zu »E« oder »L«, was untauglich für jegliche Arbeit bedeutete.
    Im Laufe von fünf Tagen hatte die Ärztekommission insgesamt 9956 der gut 20   000 Personen, die sie sich zum Ziel gesetzt hatte, gestempelt und verzeichnet und auch damit begonnen, Patienten und andere in die Gettokrankenhäuser Eingelieferte zu den Untersuchungsstationen zu bringen. Tags darauf fassten die Behörden den Beschluss, nun auch die »Evakuierung« der westeuropäischen Juden einzuleiten.
    In einer Rede, die Rumkowski kurz nach dieser Anordnung hielt, sagte er:
     
    Ihr kennt ebenso wie ich das alte jüdische Sprichwort, das besagt, die Wahrheit ist die beste Lüge. Nun gut, dann will ich euch die Wahrheit sagen: Allen Juden aus Prag, Berlin und Wien, die das Getto jetzt verlassen, wird andernorts eine Arbeit beschafft. Die Behörden haben mir ihr Wort gegeben, dass niemandes Leben in Gefahr ist und alle Juden, die das Getto verlassen, in Sicherheit gebracht würden.
     
    |200| Diejenigen aber, die ihre armseligen zehn Kilo zusammenpackten, die ihnen zur Mitnahme erlaubt waren, stellten sich selbst ganz natürlich die Frage, warum man sich wohl mit ihnen, die doch untersucht und als arbeitsuntauglich gestempelt waren, noch die Mühe machen sollte, sie an einen anderen Ort zu deportieren, um ihnen

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