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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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dass sie daheim bleiben musste. Dass ihre Mutter krank war und über längere Zeit nicht allein zurechtkam.
    Schmied aber blieb hartnäckig. Sein Blick hatte jetzt etwas Verschwommenes, seltsam Ausweichendes.
Ich weiß nicht, wem ich sonst wagen könnte, mich anzuvertrauen
, sagte er mit diesem starren, missbilligenden Ausdruck im Gesicht, der es mehr als je zuvor einer knochigen Maske gleichen ließ.
     
    Kurze Zeit später führte Schmied sie durch einen Torbogen, der breit genug erschien, um zwei Fahrzeuge gleichzeitig passieren zu lassen. Auf dem Innenhof bemerkte sie einen zurückgelassenen Karren einfachster Art, der an die Wand gelehnt stand. Der Karren hatte ein metallbeschlagenes Holzrad und lange Deichseln aus splittrigem, ungestrichenem Holz. Als sie viel später nach genau dieser Adresse suchte, hielt sie Ausschau nach diesem breiten Einfahrtstor – ja, und nach dem Karren auf dem Hof.
    Aber
da
war natürlich nichts von alledem mehr vorhanden, und das Tor war ihr bedeutend schmaler erschienen.
    Genau diesen Effekt hatte der Hunger. Was man nicht direkt vor Augen hatte, verschwand unmittelbar aus dem Gedächtnis, und das Einzige, was übrigblieb, war das gierige Verlangen nach Nahrung. (Wollte er ihr etwas zu essen geben? Brot, vielleicht etwas, das übriggeblieben war und was er nicht mit auf die Reise nehmen konnte?) Im Nachhinein sollte sie sich erinnern, dass sie im Haus mehrere Stockwerke hinaufgestiegen und ihnen überall Menschen auf dem Weg nach unten begegnet waren. Im zweiten Geschoss mussten sie an vier Männern vorbei, die den gesamten Absatz mit einem breiten Bett ausfüllten, |206| das sie zwischen sich trugen. Alles sollte nun verkauft werden! Auch Tische und Stühle aus den Wohnungen darüber nahmen denselben Weg.
    Erst im obersten Geschoss, wo sich die Wände verengten und die Decke so niedrig war, dass man kaum aufrecht stehen konnte, waren sie allein. Hans Schmied zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss eine Tür mit blanken Metallbeschlägen auf.
    Im Halbdunkel, das sie betraten, bildeten hohe Dachsparren ein fernes Dach, von dem eine Art Seil oder Tau herabhing. Hier und da lagen zurückgelassene Matratzen und Decken in den Ecken, unter denen einzelne Stücke Hausrat sichtbar waren. Schmied ging direkt zur hintersten Querwand, kniete sich auf den Boden neben etwas, das wie ein einfacher Herd aussah, und begann mit einer Messerklinge ein paar der rußgeschwärzten Ziegelsteine zu lösen. Hinter hervorquellendem Sand und Schutt zeigte sich ein viereckiger Hohlraum und in diesem Hohlraum – kaum sichtbar in dem wirbelnden Ziegelstaub – ein einfacher, selbstgebauter Rundfunkempfänger.
    »Ich habe alles selbst konstruiert«, erklärte er mit vor Staub und Stolz belegter Stimme. »Mit Hilfe alter Teile, die mir Kleszczewski beschafft hat.«
    Hier
– er beugte sich vor und zeigte –
    »Hier ist die Elektronenröhre, hier der Oszillator.«
    Und hier
, sagte er. Zog ein schmutziges Schreibheft hervor, strich den Staub vom Umschlag und wies auf eine mit Notizen dichtbeschriebene Seite nach der anderen:
    »Hier ist mein Erinnerungsprotokoll über all die Nachrichtensendungen, die ich im letzten Halbjahr hereinbekommen habe.«
    Alles in
codierter
Schrift, damit niemand das Radio, auch wenn es entdeckt worden wäre, mit ihm in Verbindung bringen konnte:
    Ich werde dir die Chiffre geben, dann kannst du selbst lesen, was alles passiert ist, seit wir hergekommen sind.
    Věra fuhr unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Sie horchte, ob ihnen jemand auf der Treppe gefolgt war, doch das Einzige, was sie hörte, war das flüsternde Tröpfeln des Regens auf dem Dach und Schmieds energische Stimme, der weiter davon berichtete, wie er abends in aller |207| Heimlichkeit auf den Trockenboden geschlichen war, manchmal allein, manchmal zusammen mit Kleszczewski. Meist hatten sie den deutschen Sendern von Litzmannstadt und Posen gelauscht, aber auch dem illegalen polnischen Sender
Świt
. In diesem Fall hatte Kleszczewski die Sendung verfolgt, und Schmied hatte danebengesessen und notiert.
    Er blätterte und zeigte Seite für Seite mit den Notizen in seiner eigenen Geheimschrift:
    »Die deutsche Winteroffensive ist ein Fiasko, die Belagerung von Stalingrad ein Zermürbungskrieg, den ausschließlich die russische Volksarmee gewinnen kann. Die russischen Patrioten haben ihre Stellungen im Kaukasus bereits vorverlegt. Früher oder später wird die siegreiche russische Armee die Weichsel überqueren,

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