Die Elenden von Lódz
Arbeit zu geben?
Dann trafen die Transporte aus Brzeziny und Pabianice ein, und wenig später kamen Lastwagenkonvois im Getto an, die Ladeflächen vollgepackt mit ausgedienter Kleidung und Schuhen, und die Lüge lag offen zutage.
|201| Samstag im Mai; ein nicht nachlassender Nieselregen hing wie ein langer bleicher Vorhang vom Himmel herunter. In dem eigentümlich kalten, wässrigblauen Licht warteten Hunderte Menschen auf dem Hof der Aussiedlungskommission in der Rybna, zu einer einzigen Masse zusammengedrängt, mit steifen Schultern, die Hände tief in den abgewetzten Taschen vergraben.
Seit Wochen standen sie schon da, seit man den Beschluss bekanntgegeben hatte, auch Westjuden, die noch keine Arbeit gefunden hatten, zu evakuieren. Mal um Mal griff der Älteste in seinen Reden die mangelnde Arbeitsbereitschaft der Neuankömmlinge auf. Mit vibrierender Stimme ließ er sich über die von ihm als verweichlichte Parasiten und Arbeitsverweigerer Bezeichneten aus, erklärte, dass er ihnen die Rechnung seit langem habe präsentieren wollen, doch seien die Deportationen der festen Bewohner dazwischengekommen. Nun aber sei die Zeit da.
Schon bald
, tönte er von seiner Tribüne;
schon bald wird auch über euch Gericht gehalten!
Die tschechischen und deutschen Juden schien die aggressive Attacke des Präses vollkommen zu überraschen. Plötzlich wurden das Zentrale Arbeitsbüro am Bałucki Rynek und das Büro der Aussiedlungskommission in der Rybna von Bewohnern der Wohnkollektive überschwemmt, die Arbeit suchten oder behaupteten, beweisen zu können, dass sie bereits Arbeit
hatten
, oder die durch Bescheinigungen belegten, dass sie viel zu krank waren, um einen Transport, wie den kürzlich durchlittenen, überhaupt überstehen zu können, was durch vorgelegte Atteste und jede Art Empfehlungsschreiben sowohl von Freunden als auch von ehemaligen Arbeitgebern unterstrichen wurde.
Auch Arnošt Schulz war in den vergangenen Wochen von einer großen Anzahl früherer Bekannter aus der jüdischen Prager Gemeinde |202| aufgesucht worden, von Männern, die ihn seinerzeit kaum gegrüßt hatten, die nun aber darauf bestanden, seine Unterschrift auf verschiedene Papiere zu erhalten, die sie als ihre einzige Rettung bezeichneten.
Besonders eine Frau kam häufig zu Besuch, Hana Skořápkova: eine tschechische Jüdin, nur wenige Jahre jünger als Věra, mit deren Familie sie im Wohnkollektiv das Zimmer geteilt hatten. Nun hatten Hanas Vater, Mutter und älterer Bruder allesamt den Bescheid erhalten, dass sie auf der Liste standen und dass lediglich die Tochter, die als Einzige Arbeit hatte, bleiben durfte. Věra half der verzweifelten Hana mit ihrer Schreibmaschine, einen Antrag auf Aufschub zu verfassen, Doktor Schulz fügte ein Attest hinzu, in dem versichert wurde, dass Frau Skořápkova (die Mutter) an einer Muskelentzündung litt und insofern
für den Transport ungeeignet
war. All das schickten sie an die Aussiedlungskommission, und dann blieb ihnen nur zu warten.
Das war der Grund, weshalb sie im Regen vor dem Büro in der Rybna standen. Allmorgendlich Punkt acht Uhr wurden nämlich die Entscheidungen über die zuletzt behandelten Aufschubanträge bekanntgegeben.
Věra sollte sich im Nachhinein an das gespannte Atemholen erinnern, das die vielhundertköpfige Menge wie eine Welle durchlief, als sich weit hinten im Hof die Tür öffnete und der Kommissionssekretär, ein kurzgewachsener Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und schlaff herunterhängenden Hosenträgern, heraustrat und in seinen Papieren blätterte. Neben Hana stehend, konnte Věra die Tropfen hören, die auf ein vor dem Hausgiebel gespanntes Stück Plane herunterklatschten, und hinter diesem unregelmäßigen Tropfen das tiefe mächtige Rauschen des Regens, der sie wie eine unsichtbare Wand umgab.
Mit unerwartet lauter, fast dröhnender Stimme begann der Sekretär die Namen vorzulesen, zuerst jene, denen man einen Aufschub gewährt hatte, dann die anderen, deren Anträge abgelehnt worden waren.
Anfangs herrschte unter den Versammelten weiterhin völlige Stille. Obgleich die Namen in alphabetischer Reihenfolge genannt wurden, meinte manch einer, noch eine gewisse Hoffnung zu haben, vielleicht war ja der Name, auf den sie warteten, irrtümlich übersprungen worden, oder er befand sich ganz unten auf der Liste; bald aber verbreitete sich in der Menge vage Unruhe. Jemand brach in schrilles Weinen aus; ein |203| anderer rief den Namen einer Person, die
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