Die Elenden von Lódz
soeben die Ablehnung erhalten hatte. Und dann wurde das, was zunächst nur eine leichte Vorwärtsbewegung war, zur massiven Lawine; wie ein Mann warfen sich die Versammelten in Richtung Tür (durch die der Verwaltungsbeamte bereits hatte verschwinden können), und die Polizei, die schon die ganze Zeit über Wache gestanden hatte, rückte vor und bildete eine Kette vor dem Haustor.
Die Polizisten hatten all das schon mehrfach erlebt. Nicht aber Hana. Das Mädchen war untröstlich. Alle, für die sie um Aufschub ersucht hatte, einschließlich ihrer Mutter, hatten eine Ablehnung erhalten.
*
Das Getto war im Aufbruch. Auf Gehsteigen und an den Straßenecken vom Jojne-Pilcher-Platz die ganze Łagiewnicka hinunter standen deutsche und tschechische Juden und boten an, was sie an beweglicher Habe besaßen. Erst kürzlich hatten die Neuankömmlinge aus Prag, Luxemburg und Wien mit frischen Reichsmarkscheinen bezahlt, um all das ins Getto mitgeführte Gepäck transportieren zu lassen. Jetzt waren all die mitgebrachten Gegenstände zur Belastung geworden, nicht viel mehr wert als das Futter der teuren Wintermäntel, auf die sie Vorübergehende ein Angebot machen ließen.
Und keiner der hier Handelnden war an Geld interessiert. Verkauft wurde im Austausch gegen Lebensmittel; und die »einheimischen« Juden, die herkamen, um auf die Waren zu bieten, hatten alle eigene Küchen- oder Balkenwaagen bei sich, auf denen sie sorgfältig die Menge Mehl, Zucker oder Roggenflocken abwogen, die sie im Austausch gegen den warmen Wintermantel oder ein Paar noch nicht ausgetretene Schuhe entbehren zu können glaubten.
Irgendwo aus dem Gedränge hörte Věra eine Stimme, die ihren Namen rief.
Ein Stück die Straße hinunter stand ein Mann und winkte ihr mit rudernden Armbewegungen zu. Daran erkannte sie ihn, an seiner Haltung:
Schmied
, hieß er. Hans Schmied.
Aus Hamburg.
|204| In den Wochen nach der Ankunft der Transporte hatten er und einige andere Juden aus Köln und Frankfurt häufig die alte Volksschule in der Franzstraße aufgesucht, um mit den dort einquartierten tschechischen Juden ins Gespräch zu kommen.
Es hieß, sie kämen nur, um Neuigkeiten auszutauschen, dieses im Getto ewige
was Neues
, oder um wertvolle Kontakte für die ständige Jagd nach Essen zu knüpfen. Doch widmeten sie sich besonders den Frauen, und Schmied hatte es aus irgendeinem Grund sofort auf Věra abgesehen.
Nicht, dass gegen Herrn Schmieds Äußeres etwas einzuwenden wäre. Derselbe Gott, der ihm bei der Geburt die Schulterpartie um eine halbe Drehung verrenkte, hatte seinem länglichen Gesicht durch die schmalen Nasenflügel und die straff nach unten gezogenen Mundwinkel auch einen aristokratischen Ausdruck verliehen. Selbst die wenigen Male, wenn Schmied sich an einem Lächeln versuchte, zogen sich seine Mundwinkel nach unten, was den Anschein erweckte, als würde er alles stets leicht angewidert betrachten. Der aristokratischen Miene indes widersprach seine Stimme. Schmied redete ununterbrochen und eindringlich. Er hatte erzählt, dass er mit seiner Diplomausbildung in Elektrotechnik fast fertig gewesen war, als die neuen Rassengesetze in Kraft traten. Zwei Jahre später hatte man die gesamte Familie nach Litzmannstadt deportiert. Doch diese habe noch nicht all ihre alten Kontakte verloren, erklärte er. Sein Vater, ehemals Eigentümer einer Hamburger Speditionsfirma, hatte viele Kunden unter den reichen Litzmannstädter Textilfabrikanten gehabt. Jetzt war er bei einem dieser früheren Kunden einquartiert, einem gewissen Herrn Kleszczewski, der ihn in der Sulzfelderstraße mit einem eigenen Zimmer in der Wohnung der Familie bedacht hatte.
Es sei ihm, hatte Schmied gesagt (fast so, als wollte er prahlen), im Getto unsagbar gut ergangen.
Nun stand er dennoch hier, im Gedränge mitten auf der Straße; und derselbe Anzug, den er getragen hatte, als er ihr den Hof machte, hing nun auf einem Bügel hinter ihm am schmiedeeisernen Zaun. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die verhassten gelben Judensterne auf Brust und Rücken abzutrennen.
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Sie reisen also, Herr Schmied
, sagte sie.
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Doch er hörte nicht zu. Seine Hand auf ihrem Arm, beugte er sich vor und flüsterte, dass er ihr etwas zeigen wolle, etwas Wichtiges. Sie müsse ihm nur eine Viertelstunde, höchstens zwanzig Minuten ihrer Zeit widmen.
Sie schaute sich um. Versuchte, ihm zu erklären,
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