Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
und dann wird es kein Getto mehr geben. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    Er sah sie mit bohrendem Blick an, und ihr wurde ganz übel. »Überall im Getto gibt es Radiohörer«, sagte er.
    Ohne dass sie es bemerkt hatte, hatte er ihre rechte Hand ergriffen und ließ nun den Schlüssel, mit dem er die Bodentür geöffnet hatte, hineingleiten.
    »Du brauchst vor nichts Angst zu haben«, sagte er. »Hebe ihn einfach für mich auf. Mir genügt es zu wissen, dass er in sicheren Händen ist.«
    Er sprach mit überraschend ruhiger, fester Stimme.
Geh jetzt
, sagte er, und als sie sich noch immer nicht aufraffen konnte, etwas zu tun:
Ich bleibe, bis ich sicher bin, dass du fort bist.
Sie schloss die Finger um den Schlüssel und ging zur Bodentür, und als sie sich ein letztes Mal umdrehte, sah sie, dass er die Ziegel bereits vor das Loch in der Herdwand geschoben und alle Spuren beseitigt hatte.
     
    Später sah sie ihn das Getto verlassen.
    Sie stand unter den anderen Neugierigen, die sich hinter der Absperrlinie der Polizei versammelt hatten, und sah, wie die Deportierten den Sammelpunkt an der Trödlergasse vor dem Zentralgefängnis verließen und den staubigen Weg hinaus nach Radegast einschlugen. Es war ein brennend heißer Maitag; auch Hana Skořápkova ging mit ihrer Mutter und ihrem Vater im hinteren Teil der Kolonne. Also hatte Hana sich letztendlich entschlossen, ihrer Familie aus dem Getto zu folgen.
    |208| Schmied, mit seinem üblichen aristokratischen Ausdruck im Gesicht, ging allein in der Reihe, einen Koffer in der Hand; über der Schulter trug er ein buckliges Bündel, Hausrat, vermutete sie, eingewickelt in Bettwäsche und Handtücher. Er begegnete ihrem Blick, als sie dort am Straßenrand stand, ließ sich jedoch nichts anmerken und drehte sich auch nicht noch einmal um.

 
    |209| Nacht für Nacht kamen Konvois schwerer Armeefahrzeuge ins Getto gerollt. Die an den Durchfahrtsstraßen wohnten, konnten von derart starkem Scheinwerferlicht berichten, dass es gewaltige Wunden in den Verdunkelungsgardinen aufriss, und vom Dröhnen der Motoren, das die Wände erzittern ließ. Jeder Konvoi bestand aus mindestens zehn Wagen. Jeder einzelne von ihnen war mit mehr als hundert Zwanzigkilosäcken beladen, voll mit zerrissener, blutiger Kleidung.
    Am Morgen war das Gebiet um die Mariakirche abgesperrt. Auf dem offenen Platz, vom Kircheneingang bis zur Marienfigur an der Treppe hinunter zur Zgierska, lagen Matratzen und Säcke, vollgestopft mit Decken und Bettwäsche.
    Arbeitskräfte wurden nun direkt am Bałucki Rynek rekrutiert.
    Etwa fünfzig Tagelöhner luden die Säcke auf Schubkarren und fuhren sie in die leere Kirche. Vorn am Altar wurde mit dem Aufstapeln begonnen; anschließend wurde auch der Raum zwischen den Bankreihen mit Decken und Matratzen gefüllt. Schon bald hatte man eine derart hohe Pyramide aus Säcken errichtet, dass das Licht, das durch die wundervollen Bleiglasfenster über dem Altar hereinfiel, verdeckt wurde, das Echo verschwand und die verlassene Kirche in Finsternis sank.
     
    Ungefähr zur gleichen Zeit trafen die ersten Juden aus den Nachbarstädten Brzeziny und Pabianice im Getto ein. Auch sie kamen nachts, in kleinen Transportwaggons, deren Fenster und Türen versiegelt waren.
    Tausend Juden kamen mit dem ersten Transport – ausschließlich Frauen. Irgendwann im Verlauf der Reise waren sie von ihren Männern getrennt worden, und die Kinder hatte man ihnen weggenommen. Ihre Berichte waren verworren und zusammenhanglos. Einige erzählten, die Deutschen hätten sie zu vielen Hunderten zusammengetrieben, und |210| dann mussten sie im Laufschritt zum Bahnhof eilen, und jeder, der stolperte oder hinterherhinkte, wurde schonungslos erschossen.
    Die Überlebenden hatte man mit Stößen und Schlägen in die wartenden Züge gescheucht. Andere schienen nicht einmal begriffen zu haben, dass sie in Eisenbahnwaggons gefahren waren, noch viel weniger, wohin der Zug sie gebracht hatte.
    Der blinde Doktor Miller ließ Ärzte ins Filmtheater Marysin schicken, in dem man die Frauen vorübergehend einquartiert hatte. Es waren dieselben (nunmehr leeren) Lagerräume, die erst wenige Wochen zuvor für die Evakuierung der Wohnkollektive aus Köln und Frankfurt benutzt worden waren.
    Es ging auch die Rede, dass der Älteste sich hinbegeben würde, um mit den Frauen zu reden. Doch war er nicht dazu bereit. Vielleicht wagte er es nicht. Stattdessen wurde Rozenblat angewiesen, das Gebiet abzusperren und dafür zu

Weitere Kostenlose Bücher