Die Elenden von Lódz
sorgen, dass die Frauen in ihren Baracken blieben.
Das aber war vergeblich. Mehrere von ihnen hatten die Absperrung bereits überwunden, und es dauerte nicht lange, bevor sie in den Vierteln um den Bałucki Rynek auftauchten. Dort stürzten sie auf alle zu, die ihnen begegneten, und verlangten zu wissen, ob jemand ihre Kinder und ihre Ehemänner gesehen habe.
Die Juden aus dem Łódźer Getto lauschten diesen Berichten mit zunehmendem Entsetzen.
Auch in Brzeziny hatte es ein Getto gegeben. Doch dieses Getto war offen, die Leute konnten kommen und gehen, wie sie wollten, ohne dass man auf sie schoss. Auch Arbeit hatte es gegeben. Fast alle Juden in Brzeziny waren für dieselbe deutsche Firma, für Günther & Schwartz, tätig, was sie glauben ließ, dass alle Juden in Brzeziny sicher wären. Dann aber war plötzlich der Befehl zur Evakuierung ergangen. SS-Kommandos hatten Viertel um Viertel abgesperrt. Man hatte ihnen zugesagt, dass sie elf Kilo Gepäck pro Person mitnehmen dürften. Doch als sie mit ihren wenigen Habseligkeiten zur Abfahrt aufgereiht dastanden, tauchten SS-Männer in ihren schwarzen Mänteln auf und begannen die Leute zu sortieren. Junge, gesunde Männer und Frauen teilte man einer Gruppe zu, die als A bezeichnet wurde. Die anderen, Kinder, Alte und Kranke, wurden der Gruppe B zugeschlagen. Auf diese Weise |211| riss man ganze Familien auseinander. Die Gruppe B musste zur Seite treten, während die Gruppe A den Befehl erhielt, sich im Laufschritt zum Bahnhof in Bewegung zu setzen. Schon bevor sie dort angekommen waren, konnten sie hören, wie die Deutschen alle Zurückgelassenen erschossen.
Andere hatten noch weiteres zu berichten:
Im Dorf Dąbrowa, drei Kilometer vor Pabianice, war ein Lager in einer Fabrik errichtet worden, die seit dem vergangenen Jahrhundert nicht mehr in Betrieb war. In dieses Lager hatte man Berge gebrauchter Matratzen, Schuhe und Kleidung transportiert. Einige der jungen Männer und Frauen, die der Gruppe A zugeschlagen worden waren, hatte man zuerst dorthin gebracht, damit sie die Sortierarbeit übernahmen, und diese bezeugten, dass sie zwischen all den Mänteln, Schuhen und Kleidern auch Arbeitskarten mit jüdischen Namen gefunden hatten, die allesamt mit dem runden Signet des hiesigen Zentralen Arbeitsamtes und dem Stempel der Behörden versehen waren, quer über Foto und Unterschrift stand AUSGESIEDELT . Sie hatten auch Brieftaschen mit der Währung des Gettos gefunden, in Münzen und Fünf- und Zehnmarkscheinen.
Für die erschrockene Zuhörerschaft ließen sich diese Zeugenberichte unmöglich in Abrede stellen. Die Arbeitskarten konnten kaum andernorts als in ihrem Getto ausgestellt worden sein, und die Währung galt schließlich nur hier, man konnte sie überhaupt nirgendwo anders erstehen.
*
Am Montag, dem 4. Mai, um sieben Uhr früh, ging der erste Transport westeuropäischer Juden vom Bahnhof Radogoszcz ab. Die Familien aus Hamburg, Frankfurt, Prag und Berlin, die erst ein halbes Jahr zuvor unter so großen Entbehrungen im Getto eingetroffen waren, mussten es nun wieder verlassen.
Die Aussiedlung der Kollektive erfolgte beinahe in derselben Reihenfolge, wie sie angekommen waren:
|212| Die ersten, die abfuhren, waren die Kollektive
Berlin II
und
Wien II
,
Düsseldorf
,
Berlin IV
und das Kollektiv aus
Hamburg
. Dann folgten:
Wien IV
,
Prag I
,
Prag III
,
Köln II
,
Berlin III
,
Prag V
,
Wien V
,
Prag II
,
Prag IV
,
Wien I
.
Wer seine Deportationsorder erhalten hatte, musste sich zum Sammelpunkt an der Trödlergasse begeben. Dort wurden ihnen die Brot- und Lebensmittelkarten abgenommen, und man registrierte sie unter derselben Transportnummer wie auf der Liste der Aussiedlungskommission. Die Nacht verbrachten sie entweder in einer der neuerrichteten Baracken in der Trödlergasse oder direkt im Zentralgefängnis. Um vier Uhr in der Früh traf ein Kommando des Getto-Ordnungsdienstes ein und befahl allen, sich in Marschordnung aufzustellen – fünf pro Reihe, ein Polizist ging voran, einer am Ende und jeden zehnten Meter entlang des gesamten Marschblocks ein weiterer.
Ihr Weg führte sie die Marysińska hinunter bis zum Bahnhof Radogoszcz hinaus.
Um sechs Uhr morgens, eine Stunde, bevor der Zug abfahren sollte, wurden sie angewiesen, sich erneut in Reih und Glied aufzustellen, diesmal zwei Meter vom Zug entfernt. Eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges fuhren zwei Limousinen der Gestapo auf dem Bahnhofsgelände vor, und zwei Offiziere, gefolgt von
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