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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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während er schrie und die anderen Posten aufforderte, es ihm gleichzutun:
    Ich bin Karrenschieber, ich bin Karrenschieber!
    Die anderen Posten lachten so heftig, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten; und als wäre das nicht genug, ging Sonnenfarbs Unterführer Henze hinterher und schlug mit dem Gewehrkolben nach |215| den herangekommenen Juden, um sie ebenfalls zum Lachen zu zwingen. Henze stand im Rang unter Sonnenfarb, und es war ihm wichtig, dass alle – Juden wie Arier – exakt das taten, was sein Vorgesetzter erwartete.
    Doch zur Erleichterung aller blieb meist keine Zeit für weitere Lachorgien. Ein neuer Wagen rollte zum »Ausschippen« heran.
    Ein paarmal quollen auch andere Dinge aus den Waggons, wenn die Seitenwände geöffnet wurden:
    Leere Koffer, Reise- und Aktentaschen. Und Schuhe, Hunderte von Schuhen – Damenschuhe, Herrenschuhe, Kindersandalen –, die meisten ohne Sohlen oder Oberleder. Es ging das Gerücht, dass man in manchen Schuhen oder eingenäht im Kofferfutter Goldsachen gefunden hätte. Deshalb erhöhten die deutschen Wachtposten ihre Aufmerksamkeit, sobald sie eine solche Ladung eintreffen sahen. Adam stand daneben und bemerkte, wie mehrere seiner Kameraden frenetisch in den blutbefleckten Kleidern wühlten. Das aber wurde nie lange geduldet.
Schluss! Schluss damit!
, schrie Henze.
Sofort aufhören!
Wenn der Karren vollgeladen waren, sprangen die beiden Männer, die sich oben auf dem Waggon befanden, herunter und ließen sich vor den Karren »spannen«, während die beiden Untenstehenden von hinten schoben.
    Die beladenen Karren wurden zu einem der vielen Lagerschuppen geschleppt, die um das Bahnhofsgebäude errichtet waren. Von hier aus ging die Ladung direkt zu dem großen Gemüsedepot am Bałucki Rynek. In Radogoszcz existierte auch ein Fleischlager, in dem Schlachtabfälle bis zu ihrer »Veredelung« aufbewahrt wurden. Unter den hohen Dachsparren herrschte sommers wie winters ein widerwärtiger, Übelkeit erregender Gestank. Direkt hinter dem Eingang standen lange glänzende Wannen, in die man die Fleischprodukte sortierte, die als »zweite Wahl« eingestuft wurden, Stücke rohen Pferdefleischs, von bläulichen Adern durchzogen, unter denen das Fleisch bereits grau war und suppte. Diese »zweite Wahl« wurde ins Getto transportiert, wo man sie zu Wurst zermahlen wollte. Jedes Mal, wenn die Lagertüren aufgingen und die Wagen vorüberfuhren, schlug den Männern der beißend scharfe Geruch der angegangenen Wurstmasse entgegen.
    Es war mit allerstrengster Strafe belegt, etwas aus den Waggons oder Magazinen mitgehen zu lassen. Die Ordnungskräfte führten bei allen |216| Arbeitern Leibesvisitationen durch, zunächst, damit sie keine unerlaubten Dinge mit nach Radogoszcz brachten, und später noch einmal: wenn sie ihre Schicht beendet hatten. Keine Polizeimacht der Welt konnte die Entladearbeiter indes daran hindern, eine vom Wagen gerollte Kartoffel oder Kohlrübe blitzschnell aufzulesen und hastig zu vertilgen. Das nannte man
abschöpfen.
Alle schöpften etwas ab. Zunächst diejenigen, die an der Entladerampe tätig waren. Dann die Arbeiter, die sich in den Depots um diese Bedarfsgüter kümmerten. Anschließend diejenigen, die die Lebensmittel ins Getto transportierten und sie im Zentrallager ausluden. Darauf die Fuhrleute, die die Nahrungsmittel aus den Lagern zu den Verteilungsstellen brachten. Und letzten Endes die für die Verteilung Zuständigen, die gern etwas für sich selbst zurücklegten oder für jene, deren Schutz sie genossen. Wenn ein Kunde nach drei- oder vierstündigem Schlangestehen endlich zum Verkaufstisch vordrang und seinen Talon hinüberreichte, konnte es sehr wohl vorkommen, dass die begehrte Ration
Rote Rüben
schon nicht mehr da war –
    Aus
, hieß es dann im charakteristischen, barsch abweisenden Ton,
kein Zucker mehr, kein Brot heute –
    Aus –
    Adam Rzepin war klug genug, um zu begreifen, dass sein Onkel Lajb ihm da einen privilegierten Job beschafft hatte, trotz der Nachtschichten und der schweren Plackerei. Solange die Deportationen andauerten, wurden drei, vier vollbeladene Züge per Schicht entladen. Abgesehen von gebrauchter Kleidung und gebrauchten Schuhen, die in den Werkstätten des Gettos wiederverarbeitet wurden, traf über diesen Weg auch Material für die Holz- und Metallwarenfabriken des Gettos ein. Und die Aufseher machten keinen Unterschied zwischen Menschen, Lumpen, Schrott oder Briketts. Stets ging es um Fracht, die

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