Die Elenden von Lódz
Polizisten der deutschen Gettowache, gingen an den Wagen entlang und befahlen allen, ihr Gepäck auf den Boden zu legen. Erst als das geschehen war, wurde die Versiegelung der Türen gebrochen, und man half den Passagieren in den Zug, der diesmal ausschließlich aus Dritte-Klasse-Wagen bestand.
Das zurückgelassene Gepäck wurde anschließend mit Lastwagen zu den Räumen der Aussiedlungskommission in der Rybna gefahren, wo bereits zwei auf den Hof hinausgehende Hinterzimmer mit Bergen von Koffern und Matratzen gefüllt waren. Wenige Stunden später kehrte exakt derselbe Zug mit exakt denselben Wagen zurück, die nun leer waren und den nächsten Transport erwarteten.
|213| Zuerst sieht man nur das scharfe Scheinwerferlicht draußen in der Dunkelheit hängen. Das Licht steigt und fällt, als würde eine leuchtende Lampe sacht von einem unsichtbaren Arm gehoben und gesenkt. Die Lampe schwillt zum Lichtball, der plötzlich zersplittert, und im selben Augenblick vernimmt man das schwere Schnauben und Stampfen der hart arbeitenden Lokomotive. Dann bricht die Lokomotive mit metallischem Kreischen ins Bahnhofsgelände ein. Stets sind vier oder fünf bewaffnete Wachtposten im Zug, und ebenso viele kommen über die flache Rampe gelaufen oder schwingen sich mit festem Griff um Einstiegshilfe oder Wagentür nach oben. Ganz vorn stehen die Führer der Wachmannschaft und erteilen ihre Kommandos mit bellender Stimme, bevor ein Trupp Arbeiter, der hinter Schuppen und Lagerhäusern gewartet hat, sich langsam, gleichsam widerstrebend den Wagen nähert, die jetzt von allen Seiten entladen werden sollen.
Auf dem Papier ist man hier
außerhalb
der Gettogrenze. Adam Rzepin hätte über diesen Umstand eine gewisse Ausgelassenheit empfunden, sähe es hier
draußen
nicht ebenso aus wie
drinnen
. Derselbe Haufen überdrüssiger deutscher Gettowachtposten, die mit ihren glanzlosen Stahlhelmen und feldgrauen Uniformmänteln auf und ab marschieren – kettenrauchend; sich neutrale Bemerkungen zuwerfend, während sie gelangweilt zusehen, wie die Arbeiter die Schiebetüren der Güterwaggons aufhebeln.
Jenseits des hellerleuchteten Bahnhofsgeländes gibt es nur Dunkelheit. Und Flachland. Und Lehm. Und einen sicheren Schuss in den Rücken, wenn ihn die Scharfschützen im Wachturm mit dem wandernden Scheinwerferkegel eingeholt hätten. Radogoszcz mochte außerhalb des Gettos liegen. Doch war es von hier noch niemandem gelungen zu fliehen, niemand hatte es auch nur versucht. So einfach lassen sich die Gettogrenzen nicht beschreiben.
|214| Bedeutend erfreulicher war die Tatsache, dass die hier eintreffenden Gütertransporte auch von einigen wenigen polnischen Eisenbahnern begleitet wurden. Zuweilen kam es vor, dass sie den jüdischen Arbeitern etwas zuriefen. Drohungen, Beleidigungen und aufmunternde Zurufe bunt durcheinander. Einer der Polen sprach ihn sogar mit seinem Namen an:
Psst, Adam, A-daam, komm her …!
Eine Hand wurde aus dem Waggon gestreckt und berührte rasch die seine, ein Lächeln, das in Dunkelheit und Chaos verschwand, als die Güterwagen dann entladen wurden. Die Polen machten nie mehr, als die Türen zu öffnen oder die verplombten Ladeluken aufzuschrauben. Die Schwerarbeit, das Entladen selbst, mussten die Juden allein vornehmen. Die einzigen Arbeitsgeräte, über die sie verfügten, waren Spaten und einfache, breite Karren. Zwei Männer schwangen sich in den Waggon hinauf, zwei andere stiegen auf den Karren, um für die Entgegennahme bereitzustehen, und dann wurden die Mehlsäcke einer nach dem anderen hinabgereicht. Gemüse, wie Weiß- und Rotkohl, Mohrrüben und Kartoffeln wurden aus den Güterwagen zumeist direkt in die Karren geschaufelt. Herrschte Eile, zogen die Polen nur die Seitenwände hoch, so dass die Ladung aus den Waggons rutschte, im schlimmsten Fall direkt auf die Erde. Hatten sie dann richtig Pech, kam der oberste Befehlshaber der Wachmannschaft, Oberwachtmeister Sonnenfarb, gerade in dem Moment auf die Idee, sich aus dem Schilderhäuschen neben der Laderampe zu schieben, in dem er beim Radiohören seinen mitgebrachten Proviant verzehrte. Dietrich Sonnenfarb war ein vom Umfang her immenser Deutscher, der größtes Vergnügen darin fand, die Juden, die er zu überwachen hatte, zu imitieren. Kam einer mit einer Schubkarre vorbei, ging ihm Sonnenfarb flugs hinterher, beide Hände ausgestreckt, als hielte auch er die Griffe einer Schubkarre umfasst, sein gewaltiger qualliger Körper schaukelte hin und her,
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