Die Elenden von Lódz
entladen werden musste.
Dazu kamen noch
die zwei Suppen
. Jeder, der in der Nachtschicht arbeitete, bekam eine Extraportion Suppe. Es war eines Nachts nach dieser zweiten Suppe, die Arbeitsbrigade, zu der Adam gehörte, begann gerade einen mit Schrot beladenen Waggon zu entleeren, als er wieder die Stimme hörte:
Adam, der Hässliche! – erkennst du mich nicht?!
|217| Und da, direkt in der Lücke zwischen zwei Wagen, stand Paweł Biełka. Sie hatten auf demselben Hof in der Gnieźnieńska gewohnt, die Rzepins in der Sechsundzwanzig, die Biełkas in der Vierundzwanzig. Paweł Biełka war einer dieser Rüpel gewesen, die über den Hof zogen, anderen Kindern Fußtritte versetzten und sie
Judenärsche
nannten. Jetzt aber führte er sich auf, als könnte er sich vor Wiedersehensfreude kaum halten, grinste übers ganze Gesicht:
Adam, du Gauner – wie geht’s dir eigentlich …?
Und Adam, viel zu perplex über das Wiedersehen, als dass er hätte antworten können, vermochte gerade noch einen hastigen Blick über die Schulter zu werfen, um zu sehen, ob sich ein deutscher Posten in Hörweite befand.
Erst in der vergangenen Woche hatte Adam deutsche Gendarmen den Zug entlangstürmen sehen. Der Grund: ein Pole und ein Jude waren anscheinend reglos zehn Meter voreinander stehen geblieben. Ob sie miteinander sprachen oder nicht, konnte Adam nicht feststellen. Einer der Polizisten aber hatte dem Juden – es war Mirek Tryter – den Gewehrkolben direkt über den Kopf gezogen, und in der nächsten Schicht war Mirek nicht mehr aufgetaucht und niemand hatte nach ihm zu fragen gewagt.
Biełka aber reagierte auf Adams Verwirrung, indem er ihn bei den Schultern packte und rasch zwischen die Waggons zerrte. Später sollten sie noch oft so stehen, aneinandergepresst wie zwei Münzen. Und Paweł wiederholte:
Wie geht es euch eigentlich da drinnen, man hört die fürchterlichsten Dinge, dass ihr die Scheiße von den Wänden leckt, nur weil ihr nicht genug zu essen habt, stimmt das, Adam, dass ihr eure eigene Scheiße fresst, stimmt das?
, während er breitbeinig hin- und herschwankend auf der Hakenkupplung stand, die die beiden Güterwaggons verband.
Adam wusste nicht, was er antworten sollte. Es war, als befänden sie sich noch immer auf dem Hof, wo ihn Paweł Biełka herausforderte.
Red schon, du fetter Judenarsch!
Biełka schaukelte mit den Hüften. Dann geriet der ganze Zug ins Wanken, und Adam warf sich reflexartig hinunter auf den Bahnsteig. Gerade noch rechtzeitig, um die Riemen zu ergreifen, die man ihm von |218| der Vorderseite des mit Schrot beladenen Karrens hinunterreichte und ohne dass die Feldgrauen, die weiter vorn mit etwas beschäftigt waren, seine Abwesenheit bemerkt hätten.
Und dann schulterte er die Riemen und zog.
Zwei Männer zogen und zwei schoben von hinten.
Ein weiteres scharfes Pfeifsignal: Die Wagenreihe geriet noch einmal ins Wanken; dann fuhr der ganze Zug in langsamem, fast gemächlichem Tempo zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
*
Bevor noch Lidas Fallen für sie alle zur Gewohnheit geworden war, hatte Adams Mutter Józefina stets einen Eimer Wasser neben das Bett der Tochter gestellt und einen Spiegel über das Kopfende gehängt. Es schien, als würde Lida ruhiger davon. Sie konnte stundenlang daliegen und mit den Handflächen über das Wasser streichen oder Fingerbilder an die gefrorene Innenseite der Fensterscheibe zeichnen.
Adam gewöhnte sich nun an, es seiner Mutter gleichzutun, bevor er abends zur Arbeit ging: Er stellte einen Wasserbottich ans Bett und einen Spiegel und hoffte, das reichte aus. Lida aber wusste sie alle zu überlisten. Solange Adam oder Szaja schliefen, lag sie ruhig im Bett, sobald jedoch niemand mehr in der Wohnung war, begann sie wieder mit ihrem Fallen.
Eines Morgens, als Adam von Radogoszcz zurückkehrte, hörte er Lidas heisere Seevogelschreie schon lange, bevor er um die Ecke der Gnieźnieńska bog, und obgleich er nach der Nachtschicht derart ausgepumpt war, dass er kaum vorwärtskam, rannte er die Stufen zur Wohnung hinauf. Lida lag auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, das Nachthemd war über ihren vom Hunger aufgetriebenen Leib hochgerutscht, Arme und Beine hielt sie noch immer ausgestreckt zum eingebildeten Flug, und über sie gebeugt stand die Hauswartsfrau, Frau Herszkowicz. Sie hielt eine Kohlenschaufel in der Hand, die sie mit langen, entschlossenen Bewegungen hob und senkte, als ginge es darum ein Stück zähes Fleisch weichzuklopfen;
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