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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Kapseln unter die Zunge legte, würde der Posten am Tor sie nicht entdecken. Ein Deutscher leuchtete einem Juden lediglich dann in die Mundhöhle, wenn er glaubte, Gold darin zu finden, und da war der betreffende Jude mit größter Sicherheit tot.
Versuch es
, sagte Biełka, der sein Zögern sah. Zugleich streckte er die zerknitterten Zeitungsseiten so weit vor, dass jeder einzelne Wachtposten auf dem Bahnsteig sie hätte sehen können, und Adam tat, was jeder in dieser Situation getan hätte: Er ließ sie so schnell wie möglich unter seiner Kleidung verschwinden.
    *
    Die Sonne war aufgegangen und hing nun eine knappe Handbreit überm Horizont: eine bebende, warme rote Kugel über Marysins grauen, geschrubbten Felder, ausgedünnten Reihen windschiefer Häuser und grasbewachsener Erdkeller. Es war bereits Mai, aber die Nächte waren noch immer kalt. Nebelstreifen lagen in den Senken, in die das Licht noch nicht vorgedrungen war. Auch gab es nur wenig Grün an Bäumen und Büschen, vielmehr schienen sie vom selben grauen zementartigen Staub bedeckt, der um diese Stunde auch dem Himmel seine Farbe gab.
    Die Sonne aber hatte Kraft. Er fühlte sie auf der Seite seines Gesichts brennen. Als er sich umdrehte, sah er das Tageslicht wie eine Messerschneide über die Mauer des Begräbnisplatzes fahren. Das Licht schnitt Reflexe aus den Wellblechdächern gegenüber, aus den Schotterstücken auf dem Weg vor seinen Füßen, aus den Flaschenscherben auf der Mauer um eine
działka
: hinter deren Eisentor mit dem rostzerfressenen Schloss struppige Beerensträucher standen. Er ging langsam an der Mauer des Begräbnisplatzes entlang, vorbei am Grünen Haus, dann fünfhundert Meter den Hang hinunter, bis er bei Feldmans Gärtnerei |222| ankam. Aus dem an der Wand des Hauptgebäudes angebrachten Blechschornstein stieg dünner Rauch auf. Ein wundervoller Hauch von Bratenduft schlug ihm aus dem Haus entgegen. Adam klopfte, trat auf einen umgestülpten Bierkasten, der als Treppe diente, und schob die Tür auf.
    Das Gebäude bestand aus einem einzigen großen Raum, vom Fußboden bis zur Decke vollgestopft mit Tischen und Sekretären, deren Fächer und Schubladen von Rechnungen und alten Kassenbüchern überquollen; und oben auf den Fächern und Schränken lagen überall Bücher und Werbebroschüren, deren ehemals knallbunte Umschläge verblasst und durch die Feuchtigkeit aufgequollen waren. Darauf wieder standen reihenweise ausgestopfte Tiere: Auer- und Birkhähne, balzend mit gefächerten Schwanzfedern; ein Marder, der einen schmalen Baumstamm erklomm, die Schnauze gesenkt, als suche er tief zwischen den fernen Dielenritzen nach Beute.
    Józef Feldman war im Gegensatz zu all der Fülle ein kleiner Mann, höchstens anderthalb Meter groß; und obendrein schien er in seinem dicken, mottenzerfressenen Wollmantel fast zu verschwinden. Der Blick aus dem Mantel indes war überraschend scharf und fest, und die Stimme glich einer baumelnden Schlinge, als er sein
Wer sind Sie?
hervorschleuderte, schon als Adam die Tür noch aufzuschieben suchte.
    »Herr Feldman?«, erwiderte Adam fragend, wagte die Tür jedoch nicht loszulassen.
    Statt hineinzugehen, öffnete er den Gürtel und hielt dann die Hose mit der einen und das eingeschmuggelte Exemplar der
Litzmannstädter Zeitung
in der anderen Hand.
    Feldman, der sich auf seinem kleinen Primuskocher Essen zubereitete, ließ Adams Gesicht nicht eine Sekunde aus den Augen.
Rzepin?
, sagte er nur, als Adam seinen Namen nannte.
Ich kenne nur einen Rzepin – und der heißt Lajb.
    Es wirkte, als fluche er, indem er diesen Namen aussprach. Adam schämte sich, obwohl er beim besten Willen nicht begreifen konnte, weshalb.
    Lajb ist mein Onkel
, sagte er nur.
     
    |223| Der Duft gebratener Wurst bringt ihn plötzlich gänzlich aus dem Gleichgewicht. Er will sich hinsetzen, bleibt aber stehen, weil er nicht weiß, wo in all dem Gerümpel er Platz finden soll. Feldman wirft einen raschen Blick auf die Zeitung, die ihm Adam gereicht hat, faltet sie zusammen und schiebt das Bündel in eine Lücke zwischen den Fächern im Aktenschrank.
    Am hinteren Ende des niedrigen Gewächshauskörpers befindet sich etwas, das Adam zunächst für ein großes, schmutziges Fenster hält; dann sieht er, dass es kleine gläserne Kästchen oder Gefäße verschiedener Größe und Form sind, übereinandergestapelt und Kante an Kante gefügt, wie ein gläsernes Regal, das vom Fußboden bis zum Dachfirst reicht. Einige der Glaskästen sind

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