Die Elenden von Lódz
leidigen Bruder Benji bezahlt. Während der gesamten Besuchszeit saßen sie mit den beiden Fräuleins in deren Zimmer, und Regina brüstete sich damit, Chaim habe kürzlich dafür gesorgt, dass
eine feste Telefonverbindung
zwischen ihm und
den Mächtigen in Berlin
errichtet wurde, und ihr sanfter und liebenswürdiger Gatte sagte, die Verhandlungen zwischen den Behörden und ihm liefen über Erwarten gut und dass er in Kürze auf einen Beschluss hoffe, das Getto erweitern zu dürfen:
Bald
, sagte er,
sehr bald werdet ihr von hier aus die Straßenbahn direkt nach Paris nehmen können!
Und die Fräuleins lachten verlegen hinter vorgehaltener Hand:
Chaim, das kannst du uns dann doch nicht weismachen –
Chaim, tylko nie wystaw mnie do wiatru.
Dennoch schlossen sie die Augen und erlaubten sich, ein wenig zu träumen. Mit dem großen Präses schien nichts unmöglich.
|229| Nur eins fehlte, um die Lüge vollständig zu machen, doch obwohl er hoffte und betete, wurde Regina nicht schwanger. Biebow ließ den Judenältesten um diese Zeit wissen, dass die Behörden sich in Zukunft kaum damit zufriedengeben würden, dass weitere kraftlose Alte aus dem Getto verschickt würden. Bald würden
sämtliche
Arbeitsunfähigen – auch die allerjüngsten – von hier weg müssen.
Vielleicht hätten ihm diese Worte eine Warnung sein sollen.
Doch der Älteste weilte noch immer in seiner Lüge, und in dieser Lüge gab es ein KIND, ein einziges, das stark genug sein würde, um alles vom Herrn gesandte Unglück zu überleben, und diesem einzigen KIND würde er all das anvertrauen, was er bisher noch keinem zu sagen gewagt hatte.
Wenn seine Gattin aber trotz ihrer jungen Jahre unfruchtbar blieb, wie sollte dieses Kind dann zur Welt kommen? Wie und woher ließ es sich beschaffen?
Die anderen Kinder des Gettos versuchte er auf konkretere Weise zu retten.
Es war trotz allem eine ziemlich einfache Gleichung: Je mehr er mit Arbeit versorgen konnte, desto mehr würden die Behörden verschonen.
Bereits im März 1942 hatte er spezielle Lehrlingswerkstätten für Jungen und Mädchen zwischen zehn und siebzehn eingerichtet. Hierhin ließ er die älteren Jungen und Mädchen aus dem Grünen Haus und den anderen Marysiner Kinderheimen bringen.
Im Mai desselben Jahres, als die Wohnkollektive der deutschen Juden geräumt worden waren, hatte er das alte Volksschulgebäude in der Franciskańska zur Berufsschule mit zwölf separaten Klassen für jeweils fünfzig Kinder umgebaut. Es gab Zuschneideklassen, Klassen für Hand- und Maschinennähen und für Materialkunde. Sogar einfachere Buchführung wurde gelehrt.
Nach mehreren Wochen Übung wurden die Begabtesten in die Produktionsschicht der Zentralschneiderei übernommen, wo sie unter Aufsicht von Inspektoren tätig waren, die umhergingen und jeden Fehlgriff und Zeitverlust bemängelten. Die Kinder hatten die Aufgabe, spezielle Tarnmützen für die deutsche Wehrmacht herzustellen, mit einer äußeren |230| Schicht aus weißem Stoff für den Kampf in Wintergelände und einer inneren grauen für den Kampf in normalem Gelände. Der Älteste ging von Tisch zu Tisch und sah den Stoff in breiten Streifen zwischen den flinken Kinderfingern dahingleiten, sah die Lehrer sich hinabbeugen und den Händen helfen, die Stoffstücke gerade zu halten, wenn die Maschinennadel hineinstach, Bahn um Bahn, und ein Gefühl des
Stolzes
überkam ihn; dass es trotz des herrschenden Chaos und der Hungersnot dennoch möglich war, eine solche Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten.
Bis zum Juli 1942 war es ihm geglückt, mehr als 1700 von allen Gettokindern, die älter als zehn Jahre waren, eine feste Näharbeit zu beschaffen. Gewährte man ihm nur genügend Zeit, würde er gewiss für eine mindestens ebenso große Anzahl Arbeit beschaffen – und sie mithin retten – können.
Doch während er auf diese Weise die Mauern seiner Arbeiterstadt befestigte, ging der Zerfall ununterbrochen weiter:
Bereits Ende April waren Nachrichten über die Massaker in Lublin bei ihnen eingetroffen.
Darauf (am 1. Juni):
Pabianice
und
Biała Podlaska
.
Aus
Pabianice
waren vierzig Eisenbahnwaggons, beladen mit Frauen und Kindern, spurlos verschwunden.
Wenn er hinter den geschlossenen Türen des Sekretariates saß, hatte er zuweilen den Eindruck, als finde dort draußen ein gewaltiger Erdrutsch statt. Als krachte das, was die Wirklichkeit zusammenhielt, in allen Fugen.
In seinem Büro bekam er Besuch von Dawid Gertler,
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