Die Elenden von Lódz
und um sie herum standen sämtliche Nachbarn (einschließlich Frau Wajsberg mit ihren Söhnen |219| Jakub und Chaim sowie Frau Pinczewska mit ihrer Tochter Maria), und alle sahen, was geschah, doch niemand machte den geringsten Versuch einzugreifen, bevor Adam sich mühsam die Treppe hinaufgeschleppt hatte. Da wichen sie beschämt zur Seite, auch Frau Herszkowicz (die die Kohlenschaufel fallen ließ, als drohe sich deren Stiel in ihre Handfläche einzubrennen), und ließen ihn den Arm um seine Schwester legen, und langsam und behutsam half er ihrem gefallenen, zerschlagenen Körper in die Wohnung hinauf.
Die ersten Wochen, nachdem Lida aus dem Erholungsheim, das Lajb für sie organisiert hatte, zurückgekehrt war, hatten alle den Eindruck gehabt, dass es ihr gesundheitlich besser ging. Die nässenden Wunden an Armen und Beinen waren verschwunden; die Porzellanhaut hatte ein wenig von ihrem früheren Glanz zurückbekommen. Vor allem war ihr Gang sicherer geworden. Hatte sie sich zuvor bewegt, als drohten die Dielen unter ihr zu bersten, lief sie nun mit festen, federnden Schritten umher. Nickte, knickste und sagte mit lauter schriller Stimme:
Einen schönen Guten Tag, meine Herren
, oder (auf Jiddisch):
S´is gut – dos wejs ich schojn.
Früher hatte es ausgereicht, dass er sich bei ihren Anfällen auf oder über sie legte, um sie zu beruhigen. Stundenlang hatte er auf diese Weise liegen können, seinen Körper dicht an dem ihrem, während er ihr abwechselnd ins Ohr flüsterte oder etwas sang. Nichts dergleichen half jetzt mehr. Mit einer Kraft, die er an ihr nicht vermutet hätte, riss sie sich aus seinen Armen, und wieder setzte das Fallen ein. Er versuchte sie in einer Schubkarre auf dem Hof umherzufahren. Für eine Weile half das. Bestenfalls so lange, dass er es schaffen konnte, sie zu waschen, zu füttern und ins Bett zu bringen. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme band er ihre Arme am Kopfende fest. Manchmal fand sie sich damit ab. Manchmal widersetzte sie sich so heftig, dass Adam Szaja bitten musste, sie festzuhalten, während er die Stricke zuknotete. Doch auch dann, und lange danach, konnte er die verzweifelten Zuckungen in den Muskeln ihres Körper spüren: ausgedehnte, anhaltende Spasmen, die vom Rumpf bis in die festsitzenden Arme liefen.
Wie Flügelschläge. Krampfhaft, unerlöst.
|220| Etwas in ihr war zerbrochen.
Zeitweise erkannte sie ihn nicht wieder. Was ihn vielleicht am meisten schmerzte.
Es war wie in dem Moment, als sie ihm draußen in Marysin die Tür geöffnet hatte. Da war er in ihren Augen nur ein weiterer von denen gewesen, die gekommen waren, um ihr weh zu tun.
Er versuchte das Thema bei seinem Vater anzusprechen, doch Szaja weigerte sich, über die Sache zu reden. Vor allem weigerte er sich, über seinen Bruder Lajb zu reden.
»Wir müssen dankbar sein«, sagte Szaja nur.
»Wir müssen dankbar sein, dass du deine Arbeit hast, Adam, und wir müssen dankbar sein, dass wir Lida zurückbekommen haben. Es hätte viel schlimmer enden können.«
Und Adam arbeitete. Und er war dankbar für die Anstellung, die ihm Onkel Lajb besorgt hatte. Und er dachte, dass er nie mehr etwas Unrechtes tun oder gegen das Gesetz des Ältesten verstoßen würde. Lidas wegen. Eines Morgens aber hörte er erneut den bekannten Pfiff zwischen den Güterwagen, und als er hineinsprang, um nicht die Blicke der Wachtposten auf sich zu ziehen, sagte Paweł Biełka plötzlich:
Kennst du Józef Feldman.
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Ich habe etwas für ihn.
Biełka wühlte in der Hose und hielt dann ein Exemplar der
Litzmannstädter Zeitung
hoch: ein klebrigfeuchtes Stück Papiermasse voller schwerer, schwarzer Buchstaben. Adam wollte sagen, es finden täglich Leibesvisitationen statt, wenn wir ins Getto gehen und auch wenn wir herauskommen. Aber all das wusste Biełka natürlich längst.
Mach es wie ich – press das Zeug in den Schritt.
Wenn sie dich erwischen, sagst du einfach, du hast dich mit der Scheiße abgewischt, dann lügst du jedenfalls nicht!
Adam machte Anstalten, auf den Bahnsteig zurückzuspringen, doch Paweł packte ihn erneut und fixierte seinen Blick mit großem Ernst:
Was willst du haben. Zigaretten?
Ist zu gefährlich.
|221|
Essen?
Paweł, ich kann nicht.
Medikamente? Azetynil, Vigantol?
Das war es, was Adam weich werden ließ. Er dachte an Lida. Vielleicht bekäme sie durch ein paar Vitaminkapseln Verstand und Geistesgegenwart zurück. Wenn er die
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